Wie ein vierblättriges Kleeblatt
„Tanzquartett” in Hagen
Donnerwetter! Beim neuen Hagener Ballettabend gehen einem die Augen über, stockt der Atem, jauchzt das Herz! Ricardo Fernando und seine 15-köpfige Truppe wagen immer mehr und wachsen, so scheint’s, immer höher über sich selbst hinaus. Zum Erfolgsrezept des erfahrenen Brasilianers gehören eine gehörige Portion choreografische Unerschrockenheit, Originalität, gesunder Realismus und nicht selten ein Augenzwinkern. Furcht vor großen Namen – Fehlanzeige. Ob Mozart, Bach oder Strawinsky – Fernando verblüfft mit Choreografien auf Meisterwerke der Musik, die völlig authentisch und unverkrampft, maßgeschneidert für seine Tänzer, auf die exakt 100-jährige Bühne des Theaters in der kleinen Industrie- und Kunststadt am Rande des Reviers kommen. Das Publikum wächst mit und dankt seinem „balletthagen“ mit Ovationen.
Nun also tanzt Bach. Nein, „Bach tanzt“ ist kein allzu glücklicher Titel. Denn de facto „vertanzt“ natürlich die Kompanie Solowerke des barocken Musikanten. Repetitorin Ana-Maria Dafova (Klavier) und junge Gäste (Cello und Geige) wahren die delikate Balance zwischen Begleitung und konzertanter Interpretation bewundernswert. Eine raffinierte Lösung findet Fernando für die „Goldberg-Variationen“. Seine „Tanzminiaturen“ verlegt er in den Ballettsaal mit zwei mobilen achtteiligen Spiegelwänden und Stangen in reizvoll wechselnder Formation und Beleuchtung (Bühne: Peer Palmowski, Licht: Ernst Schießl). Zwischen den technisch anspruchsvollen Sequenzen und Posen (auf Spitze!) werden Videos von Füßen, Händen und Gesichtern der Tänzer auf die Gazevorhänge projiziert (Video: Volker Köster).
Optisch futuristisch, choreografisch aber ähnlich neoklassisch (in Schläppchen auf Halbspitze) begeistert, die zweite Gruppenchoreografie, „Sonate für drei“, auf Ausschnitte aus dem „Musikalischen Opfer“. Dazwischen stehen – entsprechend den Musikstücken für Solostreicher – zwei Kammertänze mit kleinerer Besetzung. In „Danse des Hommes“ spielt Kaori Yamagami (alternierend mit Matias de Oilivreira Pinto) auf einem Stufenaufbau in der Bühnenmitte Sätze aus zwei Cello-Solosuiten. Die sechs Männer wachsen im Halbdunkel aus Würfeln, umspielen die Klötze und recken sich auf den Sockeln wie Denkmale. Duktus und die langen schwarzen Röcke zu den nackten Oberkörpern sind eine eindeutige, aber wohl legitime Referenz an Jíři Kylián. Von Mats Eks kleinem Ehealltagsdrama „Aluminum“ und Maurice Béjarts „Stühlen“ inspiriert ist schließlich „Ciaccona“ auf den berühmtesten Satz für Solovioline aus der 2. Suite (Solist: Fédor Roudine, alternierend mit Mayu Kishima). Hier kann sich noch einmal der auffälligste Neuzugang der Truppe, die Italo-Brasilianerin Lara Lioi, profilieren. Was für eine grandiose Ausstrahlung, welche dynamische Darstellungskraft und rasante Technik! Partner Huy Tien Tran überzeugt neben ihr anrührend mit verhaltener Verletzlichkeit. Es ließen sich andere Tänzer und Tänzerinnen auch hervorheben, etwa die fröhliche Yoko Furihata oder Andre Baeta. Aber alle zusammen machen Ricardo Fernandos reifes, technisch vorzügliches, homogenes Ensemble aus, das eine wirkliche Bereicherung der NRW-Tanzszene bildet.
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