Hochkochende Emotionen

Das Eifman Ballett St. Petersburg beim Dance Summit in Berlin

Berlin, 22/04/2012

Alle zwei Jahre wieder: Dance Summit beim Staatsballett Berlin. Eine Woche lang gehört dann ein Spielort nur dem Tanz, diesmal das Schiller Theater. Lecture, Vortrag, Workshop, Tänzertalk sollen die Bindung zum Zuschauer festigen, neue Interessenten gewinnen, Wissen vermitteln, das Repertoire ausstellen, einfach den Tanz feiern. Dass bei der Einladung des Gastensembles der Blick gen Osten ging, ist gut. Denn in Petersburg existiert seit 1977 eine der interessantesten Kompanien jener östlichen Hemisphäre. Galt Boris Eifman, ihr Gründer und Leiter, anfangs „nur“ als Enfant terrible, das sich gegen die Ballettkonvention sperrte und nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchte, ist er, knapp 66, ein Arrivierter des internationalen Ballett-Theaters geworden. Nicht jedem mag seine Version eines modernen Tanzes expressiver Art liegen, die nichts mit dem US-zentrierten zeitgenössischen Tanz gemein hat. Eifman fußt auf russisch-nationaler Tradition und bedient auch deren stark emotionale Ausprägung. Sein „Tschaikowski“ beim Staatsballett stieß daher ebenso auf Kritikerablehnung wie auf regen Publikumszuspruch.

Für das Gastspiel mit der eigenen Kompanie, aus dem kleinen, einst frei finanzierten Leningrader Neuen Ballett nun zum 55 Mitglieder zählenden St. Petersburger Staatlich-Akademischen Ballett Theater geadelt, hat Eifman zwei Choreografien nach russischer Literatur ausgesucht und damit volles Haus beschert. „Anna Karenina“ und „Onegin“ stehen für ein rund 40 Werke umfassendes Œuvre, mit denen Eifman, Philosoph und Psychologe, Urinstinkten nachfahndet, Seelen seziert und verborgene Wünsche freilegt. Mit den Großen seiner Nation wie hier Lew Tolstoi und Alexander Puschkin weiß er sich verbündet und geistesverwandt.

So ist seine Lesart der „Anna Karenina“ an Dramatik kaum zu überbieten. Sinfonische Musik Tschaikowskis trägt mühelos die auf die Dreierkonstellation zwischen Anna, ihrem Gatten und dem Geliebten Wronski reduzierte Handlung. In 15 Bildern erzählt Eifman, wie die Beamtenfrau, eben noch mit dem umhegten Sohn spielend, dem Grafen Wronski verfällt, Ehe und Reputation aufs Spiel setzt, am Konflikt von Pflicht und Neigung zerbricht. Die Choreografie besteht großenteils aus einer Folge fulminanter Soli und Duette, in denen sich intensiv und akrobatisch virtuos die Gefühle der Protagonisten entladen. In ihrer auch gestischen Präzision wirken manche Pas de deux wie getanzte Ringkämpfe, bleiben indes der Ästhetik des Balletts verbunden, wie sehr Eifman auch mit ungewohnten Schritt-, Hebe-, Zuwurferfindungen brilliert. Das soziale Umfeld umreißen große Gruppenbilder, ob elegant beim Ball oder schranzenhaft in der Kritik an Annas Lebenswandel. Zunehmend engt sich ihre Welt ein, wird die Ehe zur Qual, die Liaison mit Wronski nicht zur ersehnten Ausflucht und muss daher scheitern. Meisterhaft und dramaturgisch perfekt schlägt Eifman Emotionen in attraktiven Tanz, steigert Annas Leid von einer plastischen Gliederung mit Gewitterblitzen zum Tanz in den Tod: Von der Empore stürzt sie sich vor einen Zug, ihren fahlen Leichnam deckt zu Glockenklang Schnee. Präsent und technisch makelfrei agieren Nina Zmievets als Anna, Oleg Markov als Karenin, Oleg Gabyshev als Wronski, assistiert von zwölf vorzüglichen Paaren, alle in Viacheslav Okunevs wunderbar gedämpftfarbigen Kostümen, Gleb Filshtinskys atmosphärischem Licht.

Problematischer für den Westeuropäer gestaltet sich Eifmans „Onegin“. Nicht nur, weil sich Crankos Fassung dem Bewusstsein eingebrannt hat. Der Petersburger verlegt die Story in den Zusammenbruch des Sowjetreichs. Seine Helden sind Menschen jener Zeit, was Freiheiten im Umgang mit ihnen erlaubt. Gewagt beginnt der wieder zweistündige Abend: mit einer Szene zu Tschaikowskis berühmtestem Klavierkonzert. Zinovy Margolin hat diesmal eine an Seilen hängende, illuminierbare Brücke gebaut, auf, vor und unter der sich die Ereignisse zuspitzen. Im kreisrunden Video sieht man Jelzin und Demos, Lenski ist ein Rockmusiker in zärtlichem Verhältnis zu Onegin. Weshalb der ihm dann Olga ausspannt, bleibt unklar. Lenski stirbt mercutiohaft den Messertod, den Onegin durch die Hand des Generals erleiden wird. Bis dahin wogen Emotionen zum Dauer-Tsunami auf, brechen sich in raffinierten, artistisch erfundenen Duetten auf halber Spitze Bahn. Wie wunderbare Bilder dem Choreografen gelingen, wie sehr man das Füllhorn seiner Bewegungssprache, die fabulöse Leistung etwa Oleg Gabyshevs als Titelheld bewundern mag: Das Übermaß an Akrobatik bei zu wenigen Stillhaltemomenten ermüdet. Dennoch: Das Wiedersehen mit einer höchst potenten Kompanie der Langbeiner und Leistungsträger wirkt nach.
 

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