Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Eine Rekonstruktion/Neuschöpfung der Stuttgarter „Medea“ aus dem Jahr 1763 im Versailler Schloss
„Médée et Jason“ ist wahrscheinlich das bekannteste Werk des Tanzreformers Jean-Georges Noverre, der vor allem durch seine „Lettres sur la danse“ (1760) eine wichtige Rolle bei der Entstehung des „ballet d’action“ spielte. Die Uraufführung des Werkes fand im Jahr 1763 in Stuttgart statt, anlässlich des Geburtstages von Herzog Karl Eugen von Württemberg. Dieser hatte neben Noverre noch einige weitere renommierte Künstler seiner Zeit an seinem Hof versammelt. So stammte das Bühnenbild für „Médée et Jason“ von dem Italiener Giovanni Niccolò Servandoni, der Franzose Louis-René Boquet schuf die Kostüme, Jean Joseph Rodolphe komponierte die Partitur und Gaetan Vestris, berühmtester Tänzer seiner Zeit, interpretierte die Rolle des Jason. Das Ballett, in dem Noverre seine Theorien in einem zuvor noch nicht erreichten Maß verwirklichen konnte, wurde zu einem der größten Erfolge des Ballettmeisters und wurde später in Städten wie Wien, Paris, Versailles und London aufgeführt. Somit war es einer der ersten „Exportartikel“ des noch sehr bescheidenen Balletts in Deutschland.
Dieses Werk erweckte nun die französische Barockspezialistin und ehemalige Tänzerin Marie-Geneviève Massé in der schmucken kleinen Oper im Versailler Schloss mit ihrer barocken Tanzkompanie „L’éventail“ (Der Fächer) zu neuem Leben. Ihre Version unterscheidet sich in zahlreichen Details von der Stuttgarter Fassung und bezieht sich laut Programm auf die Versailler Fassung aus dem Jahr 1775. Besonders auffällig ist die Präsenz eines teuflischen alter egos Medeas (Marie Blaise), die die hier recht harmlos wirkende Zauberin (Sarah Berreby) zu ihren schlimmsten Missetaten treibt (es könnte sich um eine abgewandelte Form von Noverres Allegorien des Hasses, der Eifersucht und der Rache handeln).
Die Rekonstruktion eines solchen Werkes ist ein äußerst ehrgeiziges Unterfangen, zumal von den Choreografien Noverres, der choreologische Notation grundsätzlich ablehnte, sehr wenig überliefert wurde. Es geht also mehr darum, dem Stil treu zu bleiben als das konkrete Schrittmaterial zu rekonstruieren, das höchstens noch aus einigen Abbildungen und Augenzeugenberichten zu erahnen ist. Zudem waren Massé und ihre Mitarbeiter Vincent Tavernier und Antoine Fontaine (Regie, Bühnenbild und Kostüme) offensichtlich darum besorgt, das Geschehen etwas dem Geschmack eines heutigen Publikums anzupassen. So zeigen sie statt Noverres abwechselnden Pantomime- und Tanzszenen ein fast durchgehend getanztes Stück, in dem es sich selbst der würdige König Creon (Daniel Housset), bei Noverre eine reine Pantomimerolle, nicht nehmen lässt, tänzelnd die von ihm organisierten Festivitäten anzuführen. Die Kostüme, die vor allem in den großen, ausladend mit Federn verzierten Helmen an Boquets Kostümzeichnungen erinnern, erlauben sich einige Freiheiten wie einen unbedeckten Bauch und nackte Füße bei der Haupttänzerin des ersten Stückes. Auch stilistisch wird leicht aktualisiert, beispielsweise durch Hebungen (selbst ein Mann wird hier von einem anderen gehoben) und recht moderne Choreografieelemente auf dem Boden; die Allegorie des Giftes (Volodia Lesluin) hangelt sich gar wie ein Zirkusartist von einem Seil von der Decke.
Das Ganze ergibt ein ästhetisch reizvolles Ensemble, bei dem man paradoxerweise nur die spektakuläre und leidenschaftliche Seite etwas vermisst. So hat beispielsweise die Grottenszene, die Karl Eugens Bibliothekar Joseph Uriot als so herzzerreißend beschreibt, dass die Zuschauer die tränenüberströmten Augen abwenden mussten (manche sollen sogar entsetzt die Flucht ergriffen haben), nicht viel Schauerliches an sich. Anstatt des schockierenden Kindermordes auf offener Bühne fallen hier beide Kinder einfach um, ohne dass ihnen sichtbar Gewalt angetan wurde. Medeas Triumphzug auf einem von feuerspeienden Ungeheuern gezogenen Wagen, von Uriot als „das tragischste Spektakel, das man auf einer Theaterbühne überhaupt zeigen kann“ bezeichnet, wird zum gelassenen Entschweben auf Creons Thron. Jason (Adrian Navarro) begeht nicht vor den Augen des Publikums Selbstmord, sondern betrachtet das Geschehen mit ungläubiger Verzweiflung. Generell findet man wenig der außerordentlichen Dramatik von Noverres Libretto in der Inszenierung: selbst Medeas Ausbrüche rasender Eifersucht bleiben recht brav und gesittet. Man fragt sich, ob diese Elemente für die Aufführung in Versailles im Jahr 1775 abgeschwächt wurden – jedenfalls ist es hier schwer, die leidenschaftliche Ergriffenheit des Publikums nachzuvollziehen, die laut zeitgenössischer Berichte ein Hauptcharakteristikum dieses hochtragischen Balletts war.
Vor „Médée et Jason“ wurde Noverres 1760 in Lyon uraufgeführtes Werk „Renaud et Armide“ gezeigt, das der Ballettmeister 1763 in Stuttgart neu inszenierte. Das Ballett um Tassos Helden Renaud, der durch zwei befreundete Ritter aus den Fängen der Zauberin Armide gerettet wird, zeichnet sich durch relative Klarheit und Verständlichkeit aus (Schwierigkeiten machte nur die Vorgeschichte sowie der Schild, der die wahre Natur der sich in ihm spiegelnden Personen zeigt – eine Eigenschaft, die sich im Ballett schwer erklären lässt). Ansprechend ist auch das bewegliche Bühnenbild, bei dem die Gewässer des Flusses Oronte den Blick auf Armides Insel abwechselnd freigeben und verbergen. Der Höhepunkt des Stückes ist der Moment, in dem Armide (Sabine Novel) ansetzt, den schlafenden Renaud (Noah Hellwig) mit einem Dolchstoß zu töten und plötzlich von Liebe zu ihm ergriffen wird. Daraufhin folgt ein leidenschaftliches Solo und ein inniger Pas de deux der beiden Liebenden, in dem ihre wachsende Zuneigung überzeugenden Ausdruck findet.
Begleitet wurden beide Ballette von der Musik Jean Joseph Rodolphes, die vom Ensemble „Le Concert Spirituel“ unter der Leitung von Hervé Niquet sehr nuancenreich interpretiert wurde. Schon für diese Partituren, die vom Versailler Zentrum für Barockmusik zusammengestellt wurden (mit einigen Einschüben anderer Komponisten), lohnt sich das Abenteuer einer solchen Produktion, die höchst interessante Einblicke in den Stil einer längst vergangenen Zeit gibt. Zu den anderen Beteiligten am Projekt gehört die Pariser Opéra Comique sowie das Zentrum für französische romantische Musik im venezianischen Palazetto Bru Zane – und tatsächlich scheint Venedig den Kostümbildner zu einigen Gewändern in „Renaud et Armide“ inspiriert zu haben. Wenn auch für historisch interessierte Zuschauer und Forscher eine genauere Erklärung des Verhältnisses zwischen Rekonstruktion und Neuschöpfung wünschenswert wäre, handelt es sich hier um eine Initiative, die man nur begrüßen kann, und das nicht nur aufgrund der überragenden Bedeutung des Balletts „Médée et Jason“ und seines Schöpfers für die Tanzgeschichte. Der Erfolg des Abends zeigt, dass das Noverresche Großspektakel seinen Reiz für heutige Augen und Ohren durchaus nicht verloren hat.
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