Schmetterling im Bauch

Choreografien von Lightfoot und León: Ballettgastspiel des Nederlands Dance Theater im Forum Ludwigsburg

Ludwigsburg, 26/03/2012

Ein Hauch von Todessehnsucht umweht den zweiteiligen Abend des Nederlands Dance Theater (NDT). Paul Lightfoot, der Brite und Sol León, die Spanierin, Kinder aus Seefahrernationen, seit 25 Jahren ein Duo, das sich in Den Haag unter Jiří Kyliáns Ägide gesucht und gefunden hat, tauchen in ozeanische Tiefen des Unergründlichen, erforschen im Tanz die Vergänglichkeit des Lebens und der Liebe. „Sehnsucht“ und „Schmetterling“, zwei deutsche Titel, vom Ludwigsburger Publikum im ausverkauften Forum werden die beiden deutschen Erstaufführungen mit Bravorufen und Ovationen im Stehen gefeiert.

Zunächst vom Flow hingerissen, der Kyliáns frühe Neoklassik prägt, kommt ihnen, just als sich der Stil des Tschechen ins Abstrakt-Surreale wandelt, die Nachwuchsförderung innerhalb des NDT zugute. Tänzern werden choreografische Workshops angeboten, Proben gleichen einem Bewegungslabor, in Experimenten wird nach neuem Tanzvokabular geforscht. Zudem profitieren etablierte Tanzschaffende vom frischen Wind der freien Szene und dem produktiven Klima, das die niederländische Tanzlandschaft insgesamt auszeichnet.

Vor zehn Jahren wurde das Paar Lightfoot/León zu Hauschoreografen des NDT ernannt, seit sechs Monaten ist Lightfoot künstlerischer Leiter. Im Laufe von 41 Werken ist eine, von zarter Melancholie, skurrilem Humor und karikierender Schärfe durchzogene Handschrift entstanden, die nach wie vor in profunder Klassik verankert ist. Meist zeichnet das Duo auch für Ausstattung und Bühne.

Den Vätern der beiden Choreografen gewidmet, atmet das Ballett „Sehnsucht“ (2009) die romantische Stimmung zwischen Erinnern und Ahnen, zwischen Leben und Tod. Aus einer kauernden Position entfaltet der Protagonist des einen Vaters klassisch-heroische Größe, er weiß die Gruppe anzufeuern und mitzureißen. Sprungstarke Variationen in punkgenauem Unisono des 15-köpfigen Ensembles zu Beethovens wuchtigen Dur- und Moll-Färbungen (Sätze aus den Klavierkonzerten Nr.3 und Nr.4 sowie der Sinfonie Nr. 5 c-Moll). Der andere erlebt Zweisamkeit in bescheidenen Verhältnissen. Ein Stuhl, ein Tisch und eine Lampe sind das einzige Mobiliar im Raum. Im Verlangen nach Veränderung werden Fenster und Tür zu Fluchtwegen. Einen kurzen Moment scheint der Frau, gehalten vom anderen Mann, der Flug in die Freiheit gelungen. Das außergewöhnliche dieses Raums, Sinnbild einer Beziehungskiste: Sie dreht sich um sich selbst. Wie einst das Filmset in „Königliche Hochzeit“, bei dem ein überglücklich verliebter Fred Astaire an Wänden hoch und über die Decke steppt, scheint die Schwerkraft aus den Angeln gehoben zu sein.

„Du bist ein prachtvoller Schmetterling, deine Flügel machen dich schön und ich könnte dich dazu bringen wegzufliegen, aber ich könnte dich nie dazu bringen zu bleiben.“ Aufgedrehte Tanzwesen, ganz in Schwarz, trippeln und kribbeln zu den bittersüßen „69 Love Songs“ der Band The Magnetic Fields, deren Text titelgeben ist. „Schmetterling“ (2010), Symbol der Vergänglichkeit, ist laut Programmheft, eine Hommage an die verstorbene Mutter eines Tänzers. Die Serie aus wunderschönen Soli, Duetten und Trios, sowie kleinen, teils grotesken Gruppenstücken, ist aber auch eine posthume Reverenz an Pina Bausch, sacht verschwindet der zitierte Reihentanz in der Versenkung. Nach und nach heben sich tiefschwarze, nach hinten gestaffelte Vorhänge, die schließlich den Blick auf ein düsteres Gebirgspanorama samt dramatischem Wolkenhimmel frei geben. Aber auch das ist nur eine Gardine, eine Illusion, hinter der das Dunkel wartet.

Es lohnt sich in der Pause den Saal nicht zu verlassen, denn ein Intermezzo vor dem Vorhang verbindet beide Stücke auf raffinierte Weise: Der Kauernde erhebt sich und verlässt in extremer Zeitlupe rechts die Bühne, während von links jene junge Frau mit rotem Mantel erscheint, die in „Schmetterling“ die Greisin verkörpert. Während das Publikum in die Pause schlendert und ein Spalt die Sicht auf die Bühnenarbeiter freigibt, die eilig Klebebänder wegreißen und den weißen Tanzboden entfernen, dessen Unterseite rot aufblitzt, rot wie das pulsierende Leben, tanzen drei Solisten das Hohe Lied der Entschleunigung. Eine stilisierte Performance in Zeitlupe, eine Metapher vom ewigen Kommen, Gehen und Vergehen, etwa auch eine versteckte Würdigung an den Butotänzer Ohno, der im Entstehungsjahr des Stückes verstarb? Wie auch immer, das Programm ist Weltklasse und wunderschön – noch schöner wäre, wenn man den Namen der Protagonistin erfahren würde Info: Das NDT II ist am 19. Und 20. Mai mit vier Choreografien, darunter Hans van Manen, im Forum in Ludwigsburg zu Gast.

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