Werk ohne Autor
Über die Videoausstrahlung von Marco Goeckes Tanzstück „In the Dutch Mountains” mit dem fantastischen Nederlands Dans Theater
Gastspiel des Nederlands Dans Theater bei den Berliner Festspielen
Fünfzehn Jahre sollte es dauern bis die von Jiří Kylián zu internationalem Renommee entwickelte Kompanie wieder den Weg von Den Haag an die Spree schaffte. Das NDT zeigte Stücke seiner Hauschoreografen Sol León und Paul Lightfoot (Künstlerischer Direktor) sowie neueste Arbeiten von Crystal Pite und Marco Goecke. Knisternde Spannung und großer Jubel begleitete den Dreiteiler am Eröffnungsabend im ausverkauften Haus der Berliner Festspiele.
Zwei Frauen und drei Männer sind in „Shoot the Moon“ von Sol León und Paul Lightfoot (UA 2006) gefangen zwischen raffiniert ausgeleuchteten rotierenden Wänden, deren Fenster und Türen Flucht- und Schutzräume für Beziehungsdramen bieten. Unterdrückte Schreie, gezähmte Rituale der alltäglichen Aggressionen in sehr kontrollierten Bewegungsfolgen zelebrieren blutleer die Einsamkeit in der Zweisamkeit.
Wirklich unter die Haut geht Marco Goeckes Ehrbezeugung an die Punk- und Rock-Ikone Patti Smith, deren Songs sich meisterhaft mit den choreografischen Erfindungen verbinden. Marco Goecke, weltweit erfolgreicher Hauschoreograph des Stuttgarter Balletts, ist seit 2014 Associate Choreographer beim NDT. Seine neueste Tanzschöpfung „Thin Skin“ (UA 2015) fasziniert in ihrer Körperlichkeit, setzt auf leise Töne und eine für diesen Choreografen ungewöhnliche Langsamkeit.
Sieben Tänzer, deren Haut mit Fake-Tattoos übersät ist, treiben im Nebel. In immer neuen Formationen gleitet das Septett wie federnd-galoppierende Reiter mit großen Armbewegungen durch die Dunkelheit. Feuer glimmt auf. „Take me off“, fordert Smiths raue, energiegeladene Stimme. Geisterhaft lehnt eine Frau im Kuss an der Brust eines Mannes; seine Arme suchen im Würgegriff nach ihrem Hals. Tänzerische Echos antworten auf die bezwingende Gesangsstimme: Menschen, kraftvoll wie Stiere oder geduckt wie Hühner, Hände vor Gesicht und Mund haltend. Gottgleiche Kleingeister. Soli und Gruppen schwanken zwischen Stillstand und pulsierendem Bewegungsdrive. Plötzlich driften ein Mann und eine Frau mit nackten Oberkörpern aufeinander, ohne Tattoos, dünnhäutig. Ihr fragiles Duett spiegelt nuancenreich wie schwer es ist, sich selbst und den Anderen zu spüren. Ein ganz leiser Ton steigt aus dem Mund der Frau; die Haut reißt.
Die Spanierin Sol León und der Brite Paul Lightfoot wurden 2002 zu Hauschoreographen des NDT ernannt, mit dem sie innovative Arbeiten erschaffen. Ihr „Stop-Motion“ (UA 2014) ist ästhetisch ausgefeilt, visuell aufgeladen und bleibt doch rätselhaft langatmig. Ein Bildnis ihrer gemeinsamen Tochter auf Großleinwand, in Zeitlupe transponiert, zerfällt in Sand. Als Bezugspunkt für das Tanzgeschehen bleibt es Behauptung. Zur meditativen Klangfolie der Instrumentalsongs von Max Richter treiben Menschen im Nebel aus Mehl wie Vögel mit Bodenhaftung über pulsendem Streicherteppich: tastend, stolzierend, raumgreifend. Eine getanzte Partitur des Scheiterns: eine Frau diktiert einem Mann seine Bewegungsfreiheit. Gegenläufig stehen beide, verharren im Stillstand während ein Falke im Video davonfliegt.
Arm an choreografischen, inszenatorischen oder narrativen Kontrasten spinnt dieser ins Private zentrierte Dreiteiler eine intensive tänzerische Meditation über verborgen gehaltene Gefühle. So wirkt er wie ein Ganzes. Die NDT-Tänzer offenbaren Charisma bis in die sensiblen Nuancen postklassischen Bewegungsvokabulars.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments