Addicted to Balanchine
Stefano Giannetti choreografiert „Die Vier Jahreszeiten“ am Pfalztheater Kaiserslautern
Stefano Giannettis „Liebesstürme“, ein symphonischer Ballettabend am Pfalztheater Kaiserslautern
„Liebesstürme“ titelt der jüngste Ballettabend von Stefano Giannetti am Pfalztheater Kaiserslautern. Der Choreograf, mit feinem Händchen für Handlungsballette, stellt den Russen Peter Iljitsch Tschaikowski (1840 – 1893) dem finnischen Komponisten Jean Sibelius (1865 – 1957) gegenüber. Nur 25 Jahre trennen den älteren Tschaikowski vom jüngeren Sibelius, musikalisch liegen dazwischen jedoch Welten. Was also verbindet die beiden Musiker? Dieser Frage spürt der symphonische Tanzabend nach.
Musikalische Klammer ist beider Fünfte. Tschaikowskis „Symphonie Nr. 5, E-Moll Op. 64“ spiegelt die Zerrissenheit des 48-Jährigen, der nach der vierten Symphonie zehn Jahre gezögert hatte, bevor er sich erneut einer Symphonie widmete. Durch die vier Sätze zieht sich ein Schicksalsmotiv, das wiederholt von Glücksgefühlen und Freudentaumel unterbrochen wird. Das Werk polarisiert, während es bei der Uraufführung 1888 in Moskau wenig Anklang findet, befindet der Musikwissenschaftler Josef Sittard nach der deutschen Erstaufführung in Hamburg 1889, die Sinfonie sei eine der „bedeutendsten musikalischen Erscheinungen unserer Zeit“. Der Komponist selbst bezeichnet seine fünfte Sinfonie als „misslungenes Werk“, nennt sie gar sein „Schmerzenskind“.
Giannetti versöhnt den Komponisten mit dem vermeintlichen Schmerzenskind, interpretiert die facettenreiche Musik als Turbulenzen der Biografie, dekliniert Homoerotik, Bisexualität, konventionelle Ehe (die der Form halber geschlossen wurde) und die mysteriöse Fernbeziehung zu seiner Mäzenin in unterschiedlichen Szenen durch. Klassische Eleganz, männliche Sprungkraft und romantische Schwermut schmückt Giannetti mit folkloristischen Einschüben, setzt minimale Akzente mit raffinierten Brüchen. Auf den Spuren von Marius Petipa streut er Zitate ein, wie das „Rosen-Adagio“ und die Vision des Prinzen aus „Dornröschen“. Dieses Ballett, das kurz nach der Fünften entsteht und musikalisch identische Motive verwendet, hält Tschaikowski übrigens für sein gelungenstes Werk.
„Wo Worte versagen, da fängt die Musik an“, so Tschaikowski, der in der Musik „die persönlichen Gefühle der Freude oder des Leids zum Ausdruck bringt, ähnlich wie bei einem Lyriker, der seine Seele in Gedichten verströmt. Hier ist ein Programm nicht nur nicht nötig, sondern unmöglich“. Sibelius formuliert fast identisch: „Für mich fängt die Musik dort an, wo die Musik aufhört“. Gleiche Gedanken zum symphonischen Schaffen, ähnliche Umwege, die schließlich zur Musik als Profession führen, vergleichbare Selbstzweifel bezogen auf die kompositorische Arbeit, kann man die beiden Musiker als Seelenverwandte verstehen, deren Differenz dem Zeitgeist geschuldet ist.
Jede der sieben Symphonien von Sibelius trägt einen ganz eigenen Charakter. Lässt sich in seinen ersten beiden Symphonien noch der Einfluss Tschaikowskis nachweisen, gelingt es ihm im Spannungsfeld der Zeitströmungen von der Spätromantik über den Impressionismus und Neoklassizismus bis zur Atonalität, einen ganz eigenen, individuellen Stil zu entwickeln. Er ist 50 Jahre alt, als er seine Fünfte verfasst, obwohl sie in der Zeit des Ersten Weltkriegs entsteht, strahlt sie über weite Strecken einen fast unbekümmerten Optimismus aus.
Modernität, Abstraktion, klare Strukturen und etwas von diesem unbekümmerten Optimismus atmet Giannettis Neoklassik. Diese Choreografie, die er 2002 für das finnische Nationalballett in Helsinki choreografiert hatte, ist nicht zuletzt auch eine Reverenz an den von ihm verehrten George Balanchine. Der Altmeister hätte an der fantastischen Tanztechnik und Ausdruckskraft des 14-köpfigen Ensembles seine Freude gehabt. Was sich als Hommage an zwei seelenverwandte Komponisten ausgibt, ist zugleich eine Reverenz an den Tanz und zwei große Choreografen: Marius Petipa und George Balanchine.
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