Himmlischer Balsam

Ballettabend Kaiserslautern: „Engelslieder“. Uraufführung von Stefano Giannetti

Kaiserslautern, 26/09/2012

„Wie bin ich von diesem Namen verwirrt! Er vermischt Wahrheit und Lüge in meinem Verstand und in meinen Augen. Er bringt eine sonderbare Not in mir hervor: Îsôt lacht und scherzt mit mir, ist dauernd in meinen Ohren, und ich weiß doch nicht, wo Îsôt ist...“, so sinniert Tristan im mittelalterlichen Versepos des Gottfried von Straßburg. Hatte der Drachentöter, Held und Liebhaber mit der einen Isolde eine Reihe von Liebesabenteuern genossen, lernt er in der Normandie „Isolde mit den weißen Händen“ kennen, die sich in ihn verliebt. Die Namensgleichheit mit seiner früheren Geliebten treibt Tristan in einen Konflikt. Was ist real, was bloße Einbildung? Die psychischen Verwerfungen dieser Situation bilden für den Komponisten Alois Bröder (1961) das Fundament für „Îsôt als blansche mains“.

Stefano Giannettis neuer Ballettabend „Engelslieder“ ist zweigeteilt. Zunächst minutenlang sparsame Gesten, klassische Linien, immer wieder innehaltend: Das Paar Tristan und Isolde beginnt in absoluter Stille. Im Vordergrund räkelt sich am Boden die andere, erste Isolde. Nichts ist konstruiert, alles ergibt sich so organisch wie Nijinskys „Faun“. Fast beiläufig klopft sie mit ihrem Spitzenschuh und bringt sich dem Geliebten in Erinnerung. Wie von unsichtbarer Hand geführt wird aus Duett und Solo ein Trio. Erst als die eine unters Kleid der anderen schlüpft, Vision und Realität der Namensschwestern miteinander verschmelzen, setzt mit kräftigem Schlag der Perkussionsinstrumente die Musik ein. Drängende Tonfiguren, hart angerissenen Saiteninstrumente, chromatisch fallendes Seufzer-Motiv und pulsierende Blechbläser-Klänge scheinen Tristan zu paralysieren. Mal als Beobachter, mal als Partner versucht er sich dem tanzenden Doppelwesen zu nähern, während die beiden Isolden sensibel die Klangfelder ausloten.

Mehrschichtig, labyrinthisch und kontrastreich ist das viertelstündige Orchesterwerk angelegt, das durch lange Pausen dramaturgisch an Spannung gewinnt und die Poesie des Tanzes hervorhebt. Lavendelblau und puderweiß sind die Kostüme (Barbara Kloos und Julia Buckmiller) und das Licht – indirektes tiefblaues Neon an drei Seiten und weiße Strahler rechts und links sowie einige wie Flügel geschwungene Plexiglas-Scheiben (Martin Reszler) – unterstützen die surreale Stimmung. Balsam für die Seele sind Kompositionen wie das Gedicht der versunkenen Stadt „Vineta“, von Wilhelm Müller, vertont von Johannes Brahms, „Confutatis“ aus Mozarts „Requiem“ oder Mendelssohn Bartholdys Wiegenlied „Denn er hat seinen Engeln befohlen". Wer wüsste das besser, als der 1981 in Dresden geborene Komponist, Sänger und Darsteller Jan Paul Werge, der von 1990 bis 1998 als Thomaner in Leipzig ausgebildet wurde.

Für den zweiten Teil des Ballettabends hat Werge nicht nur eine Liedauswahl zum Thema Engel getroffen − Epochen übergreifend von Bach bis Billy Joel. Er hat die Originale überarbeitet, auf mehreren Spuren selbst die verschiedenen Tonlagen eingesungen und dazu Atemgeräusche, Herzklopfen und Wetterstimmungen montiert. Überdies singt er eine Stimme live und interagiert mit den fünf Tänzer-Paaren auf der Bühne. Einfach nur da stehen und singen ist nichts für den ephebischen Musiker, der schon mehrfach Auftritte im Schauspiel hatte. Von der Zusammenarbeit mit Tänzern ist er komplett begeistert: „Musik und Tanz gehören zusammen wie Bruder und Schwester.“ Den Atem der Tänzer wahrzunehmen, ihre Energie zu spüren und Teil eines solchen Klanggebildes zu sein, sei faszinierender als alles andere, sagt er und vergleicht es mit einer Erfahrung als Chorknabe: „In den ersten Wochen war ich so euphorisiert, dass ich vor Energie hätte platzen können. Diese Euphorie hatte ich auch als junger Thomaner.“ Das Ensemble hat an der Schnittstelle von mittelalterlicher Literatur und zeitgenössischer Musik ein Experiment gewagt, das aufgegangen ist. Meditativ, homogen und technisch perfekt ist es ein Abend voll Poesie und zeitloser Schönheit.

 

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