Martin Schläpfer verlässt Wiener Staatsballett
Direktor und Chefchoreograf des Wiener Staatsballetts verlängert seinen Vertrag nicht
Martin Schläpfers „Forellenquintett“ und „Neither“ im Théâtre de la Ville
„Spektakulär!“ rief der neben mir im Publikum sitzende Hans van Manen nach Martin Schläpfers „Forellenquintett“ aus. Der Rest des Publikums folgte offenbar dieser Einschätzung, wie die zahlreichen Vorhänge und Bravorufe bewiesen. In der Tat sprühte das Werk des Schweizer Choreografen nur so vor Einfallsreichtum. Es beginnt in einer Art Disco, in der sich einige Tänzer zu einem Song der Rockgruppe „The Libertines“ attraktiv im Rhythmus wiegen. Plötzlich wechselt die Atmosphäre: Schuberts „Forellenquintett“ erklingt aus den Lautsprechern, Keso Dekkers flimmerndes Bühnenbild suggeriert die Tiefen eines Flusses, ein paar riesige goldene Gummistiefel sinken von der Decke herab und verraten die Präsenz eines Anglers, der wenig später in Person über die Bühne schlurft. Die Kostüme, die vielleicht auf glitschige Fische hinweisen sollen, haben etwas von bunten Luftballons.
Schläpfer lässt hier viele Geschichten anklingen, ohne wirklich eine durchgehende zu erzählen. Seine humorvolle, höchst musikalische Choreografie entspringt dem Kanon der Neoklassik, den er spielerisch verdreht und manipuliert, indem er sie beispielsweise verlangsamt, dezentriert oder mit Alltagsgesten durchmischt, indem er Tänzer fallen, schlurfen, stampfen und sich krümmen lässt, indem er Geschlechterrollen vertauscht und der Musik weniger sklavisch folgt als sich in ihr tummelt wie die Forelle im Wasser. Das Ensemble zeigt sich in exzellenter Form: Schläpfer setzt sowohl die klassische Technik als auch die außergewöhnliche Energie und Experimentierfreude seiner Tänzer in Szene. Oft verharren Damen beinahe endlos lange auf Spitze (und hocken sogar auf nur einem Spitzenschuh) oder werden von ihren athletischen Partnern durch die Luft geworfen, so dass sie kaum je den Boden berühren. Zeitweise erinnert „Forellenquintett“ an Jerome Robbins’ „The Concert“, wenn beispielsweise ein junger Mann ein Glas Beaujolais bestellt und vom bloßen Anblick des Weins trunken über die Bühne wankt. Derselbe Tänzer müht sich später ab, den Text von Schuberts Lied „Die Forelle“ von einem Blatt Papier vorzutragen. Da es mit dem Ausdruck durch Worte nicht so recht klappen will, bringt Schläpfer den Text einfach auf die Bühne.
Unwiderstehlich ist Schläpfers Muse Marlucia do Amaral als Forelle: Zunächst blubbert sie pfeilschnell und kokett rückwärts auf Spitze auf die Bühne, wird aber dann doch vom griesgrämigen Angler Chidozie Nzerem eingefangen, der das fröhliche Fischlein grausam zappeln lässt. Daraufhin führt er einen martialischen Siegestanz auf, bevor sich das ungleiche Paar schließlich versöhnt und er ihr sogar seine heiß geliebten Gummistiefel überlässt.
Ganz anders die Stimmung im 2. Stück des Abends, „Neither“. Schon die Musik, Morton Feldmans einaktige Oper desselben Titels, in der ein Text von Samuel Beckett in hohen Soprantönen vorgetragen wird, schafft eine unheilvolle Atmosphäre. Die Tänzer, von der Stuttgarter Künstlerin rosalie in leichte Kostüme in Nuancen von Grau, Silber, Weiß und Blau gehüllt, scheinen gerade eine apokalyptischen Erfahrung gemacht zu haben; sie winden und schütteln sich, führen zwanghafte Gesten aus, rennen gegeneinander an, hocken am Bühnenrand oder stehen einfach nur da und blicken ins Leere. Die Bühne füllt und leert sich wie eine atmende Lunge: Mal kriechen alle Tänzer aus den Kulissen, mal steht nur ein einsames Paar in einer Ecke. Das klassische Bewegungsvokabular schimmert nur noch hie und da auf, vielleicht als Erinnerung und Suche nach Ordnung und Leichtigkeit. Besonders beunruhigend ist ein Bild, in dem Marlucia do Amaral mit einwärts gedrehten Füßen und einer zitternden Hand wie eine Bettlerin oder Wahnsinnige auf das Publikum zugeht. Dennoch gibt es auch Momente der Hoffnung: beispielsweise ein langsamer, meditativer Pas de deux, zu dem die Musik wie ein befreiender Lufthauch erklingt. Immer wieder findet sich die Truppe zu kurzen Momenten der Gemeinsamkeit zusammen, wenn auch keine dauerhafte Harmonie zustande kommt. Über den Tänzern verströmt eine Installation rosalies magisches Licht in unmerklich changierenden Farben, was den mystischen, spirituellen Charakter des Stückes verstärkt. Die aus vielen Quadraten bestehende gebogene Videowand scheint ein eigenes Leben zu haben und erzählt in ihrer eigenen Sprache von der Undurchschaubarkeit des Lebens.
Man kann die Entscheidung des Théâtre de la Ville nur begrüßen, ausnahmsweise eine Gruppe von über 40 Tänzern einzuladen – und hoffen, dass Schläpfer wie Pina Bausch ein regelmäßiger Gast in diesem Theater wird.
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