It's the knight in shining armour
Kidd Pivot von Crystal Pite und Jonathon Young mit „Assembly Hall“ in Zürich
Crystal Pite and Jonathon Youngs „Assembly Hall“ im Pariser Théâtre de la Ville
Crystal Pite, eine der gefragtesten Choreografinnen der letzten Jahre, war bisher in Paris vor allem für ihre originellen Ballette bekannt, die sie für die Pariser Oper schuf. Nach ihrem Erfolgsstück „The Seasons’ Canon“ (2016) zu Max Richters Bearbeitung der Vivaldischen „Vier Jahreszeiten“ kreierte sie 2019 das dreiteilige Stück „Body and Soul“, in dem es um Verlust und Verwandlung geht (die Tänzer werden im dritten Teil zu riesigen, kampflustigen Insekten). In diesen Stücken für ein großes Ensemble beeindruckte sie durch ihre Fähigkeit, Tänzer*innen zu einer einzigen organischen Masse, zu einem Organismus mit zahlreichen Köpfen und Gliedern verschmelzen zu lassen, deren mal fließende, mal abrupte Bewegungen perfekt aufeinander abgestimmt sind.
In „Body and Soul“ mischte sich bereits gesprochener Text unter die Musik, der zunächst die Interaktionen der Tänzer beschrieb und im Laufe des Stücks immer wieder in der von Owen Belton komponierten Soundlandschaft unterging. Nun zeigte Pite im Théâtre de la Ville, das mehr dem zeitgenössischen Tanz gewidmet ist, eine andere Art von Tanzspektakel, die man als neue Form des Tanztheaters bezeichnen könnte. Zusammen mit dem kanadischen Schriftsteller und Schauspieler Jonathon Young entwickelte die Choreografin innerhalb der letzten Jahre („Betroffenheit“, 2015, „The Statement“, 2016, „Revisor“, 2019) eine Mischform zwischen Sprech- und Bewegungstheater, in dem der Text eine sehr wichtige Rolle einnimmt, obwohl zumeist niemand auf der Bühne spricht. Stattdessen agieren die Interpreten so, als sprächen sie den Text, der in Wirklichkeit aus Lautsprechern kommt. Diese pantomimischen Szenen wechseln sich mit stummen, abstrakteren Tanzpassagen ab.
Nach „Revisor“, das 2022 in Paris zu sehen war, brachten Pite und ihre kanadische Company Kidd Pivot nun ihr neuestes Stück „Assembly Hall“ nach Paris, das 2023 in Vancouver uraufgeführt wurde. Das knapp anderthalbstündige Stück spielt in einem Raum, der sowohl als Versammlungs- und Sporthalle als auch als Theater für die Inszenierung mittelalterlicher Schlachten dient. Dort versammeln sich acht Mitglieder des Wohltätigen und schützenden Ordens, der mittelalterliche Schlachten nachstellt, um über die eventuelle Auflösung des Vereins abzustimmen. Allerdings bricht schon von Anfang an die Fantasiewelt in die von Jay Gower Taylor bodenständig gestaltete nordamerikanische Wirklichkeit ein. Ein Mann liegt reglos am Boden und wird von der Schatzmeisterin des Vereins umständlich gefaltet und aufgerichtet wie eine Marionette. Bei dem Scheintoten handelt es sich um Dave, den Neuling der Gruppe, der sich später in einen Ritter in aufdringlich strahlender und quietschender Rüstung verwandelt (Kostüme: Nancy Bryant) und immer wieder von einer Lanze durchbohrt wird. Bald darauf beginnen die Tänzer*innen mit einer langatmigen Diskussion der Punkte, die für und gegen die Auflösung des Vereins sprechen, dem es an Geld und Mitgliedern fehlt. Diese realistisch-bürokratischen Debatten werden immer wieder von mittelalterlichen Szenen unterbrochen, die teils in der Halle, teils auf einer sich im Hintergrund befindenden kleinen Bühne stattfinden. Die Interpreten wechseln dabei zwischen Sprechpantomime und Tanz, zwischen ihrer Identität als Amerikaner der heutigen Zeit und mittelalterliche Ritter, Burgfräulein oder gar Raubvögel.
Das Konzept von Pite und Young ist verführerisch und anfangs überzeugend, jedoch leidet „Assembly Hall“an gewissen Schwächen, so dass manchem in den engen Sitzen des Théâtre de la Ville eingeklemmten Zuschauer die Zeit gegen Ende hin recht lang wurde. Text und Thema sind zwar ansprechend, die Streitereien der Vereinsmitglieder und die oft an die Monty Pythons erinnernden Ritterszenen amüsant, doch ist der Text nicht ergiebig genug, um eine neunzigminütige Vorstellung zu tragen. Hier könnte der Tanz einspringen, von dem es leider recht wenig gab. Im Laufe des Stückes werden viele Verbindungen angedeutet, beispielsweise zwischen der banalen Kleinstadtwelt der heutigen Zeit und der heroischen mittelalterlichen Fantasiewelt. Zudem werden spannende Themen angeschnitten – die Gemeinschaft, das menschliche Bedürfnis, sich einer höheren Aufgabe hinzugeben, das ewige sinnlose Gemetzel auf der Welt- und Versammlungshallenbühne – doch wirkt das Ganze nach einiger Zeit ziemlich repetitiv und manchmal arbiträr. Owen Belton, der aus Musik und Text den Klangteppich für „Assembly Hall“ webte, fügte dem Stück neben Mittelalter und Gegenwart noch eine dritte Zeitebene hinzu. Er verwendete Passagen aus Tschaikowskys erstem Klavierkonzert, die manchen Ritterkämpfen eine besonders erhabene Note verleihen und vielleicht eine Anspielung auf die Glanzzeit des klassischen Balletts sind: so tänzelte der Vereinschef als halbnackter König mit gigantischer Krone plötzlich wie ein Ballettprinz über die Bühne.
In den halbabstrakten Tanzpassagen schuf Pite charakteristische eindrucksvolle Tanzbilder, die man zum Teil aus ihren anderen Stücken kennt: Figuren vervielfachen sich, stapeln sich, verwandeln sich in Tiere, bilden faszinierende tableaux vivants. Die ‚Verkörperung‘ der gesprochenen Texte ist einfallsreich und präzise, und man kann die Mitglieder von Kidd Pivot für diese ohne Pause dargebotene Höchstleistung nur bewundern. So ist „Assembly Hall“ besonders für ein Publikum, das mit Pites Werk weniger vertraut ist, ein spannendes, unterhaltsames Werk, das oft zum Schmunzeln und zuweilen zum Nachdenken anregt.
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