It's the knight in shining armour

Kidd Pivot von Crystal Pite und Jonathon Young mit „Assembly Hall“ in Zürich

Absurd und witzig: ein großartiges Tanzspektakel um mittelalterliche Ritterspiele und einen bröckelnden Verein, der nach Rettung sucht

Zürich, 05/05/2024

Die dritte gemeinsame Arbeit von Crystal Pite und Jonathon Young ist eine ver-rückte Geschichte um eine aus den Fugen geratene Mitgliederversammlung. Im 93. Jahr des Bestehens des Vereins gibt es für den achtköpfigen Vorstand, wie wohl all die Jahre zuvor, nur ein Traktandum: Soll der Verein aufgelöst werden oder ist er noch zu retten? Das Publikum fehlt und ein weiteres, neuntes Mitglied.

Die – und das darf hier einmal gesagt sein – einzigartige kanadische Choreografin Crystal Pite hat mit Jonathan Young einen Theatermacher gefunden, „mit dem sie ihre signifikante Handschrift noch mehr verfeinern kann: Tanz trifft auf Theater in einer einmaligen Art und Weise“. Mit der von Pite 2002 gegründeten Company Kidd Pivot traten sie bereits 2018 mit ihrem ersten gemeinsamen Stück „Betroffenheit“ beim Schweizer Migros-Kulturprozent Tanzfestival Steps auf. Dem Zürcher Opernhaus-Publikum bleiben bestimmt die Aufführungen von „Angel’s Atlas“ und „Emergence“ von Crystal Pite mit dem Zürcher Ballett in bester Erinnerung.

Einfalls- und Bewegungsreichtum

In „Assembly Hall“ wird viel geredet – was üblich ist für eine Mitgliederversammlung – aber vor allem auch viel getanzt. Was wiederum genau zum choreografischen Stil von Crystal Pite passt. Ihr Einfalls- und Bewegungsreichtum scheint unerschöpflich zu sein. Atemlos und virtuos reihen sich einzelne Bewegungsmuster aneinander, verschieben und überlappen sich, absurd und irrwitzig folgt eine Überraschung auf die andere.

Das Thema einer Vereinsversammlung mit den typischen Fehden, Manipulationen und Machtspielen, Einwänden und Anträgen bietet eine herrliche Vorlage für ein ernstes wie auch lustiges Stück. Das Geplänkel wird hier nicht nur verbal, sondern wird mit Lanzen und Schwertern von der Amateur-Mittelalter-Reenactment Gruppe vorgeführt. Denn die Vereinsmitglieder sind gleichzeitig auch die Akteure des sogenannten „Quest-Fest“, ein schauerliches Schlachtgetümmel, das auf einer Guckkasten-Bühne im Vereinslokal aufgeführt wird. Die mittelalterlichen Schlachtszenen wirken wie Tableau Vivants. Etwas Weltfremdes aus einer vergangenen Epoche wird heraufbeschworen. Die Toten und Erstochenen, von Lanzen durchbohrten Mitglieder stehen – nach einem kurzen Hallo – wieder auf. Die Sitzung muss ja endlich fortgesetzt werden.

Sekundenschnelles Timing

Die Bühne von „Assembly Hall“ ist ein in die Jahre gekommenes Vereinslokal. Die acht Mitglieder verteilen neun Stühle, einer bleibt leer. Es wird diskutiert und gestikuliert, ob das Quorum erreicht sei und ob die Sitzung nun beginnen und stattfinden könne. Zu der Einmaligkeit der gemeinsamen Arbeit von Pite und Young gehört die von ihnen entwickelte Technik, bei der die Tänzer*innen mit ihren Lippen in sekundenschnellem Timing und großer Fertigkeit die von den (nicht sichtbaren) Schauspielern gesprochenen Worte synchronisieren. Diese Methode ist äußert amüsant und hat den Vorteil, dass die Tanzenden sich nicht mit Sprache abmühen müssen und die Texte für das Publikum voll verständlich sind. Die große Anforderung an die Tänzer*innen besteht dagegen darin, gleichzeitig mit den rasanten Bewegungsabläufen in unglaublicher Präzision die Worte zu mimen.

Unwirklich und grotesk

Die acht großartigen Tänzer*innen spielen verschiedene Charaktere, einmal in der trostlosen Realität des Gemeindesaals, dann wieder als säbelrasselnde Ritter oder wehklagende Witwen. Reales und Fiktives verwebt sich. Das Unwirkliche und Groteske wird durch Pites fesselnde Choreografie heraufbeschworen und unmittelbar unterbrochen durch die banale Wirklichkeit. Die Tänzer*innen werfen sich voller Verve ins Geschehen. In der zweiten Hälfte erhalten sie genügend Möglichkeit, neben ihrem darstellerischen Können auch ihre vielfältigen tänzerischen Fähigkeiten zu zeigen. Ihre Namen müssen hier einfach erwähnt werden: Brandon Alley, Livona Ellis, Rakeem Hardy, Gregory Lau, Doug Letheren, Rena Narumi, Ella Rothschild, Renée Sigouin, sowie die beiden Fahnenschwinger Nasiv Kaur Sall und Julian Hunt. Zu Recht erhalten sie im gut besuchten Theater 11 rauschenden Applaus.

Vertanzte Worte

Die Art der Inszenierung weckt Assoziationen zu Monty Pythons Film (1975) „Die Ritter der Kokosnuss“, wo König Artus und seine Ritter auf der Suche nach dem Heiligen Gral sind, nämlich urkomisch und witzig, aber immer auch mit einem Bezug zu einer verschrobenen Realität. Oder zum expressionistischen, tragisch-ernsten „Der grüne Tisch“ von Kurt Jooss (1932). Pites vielschichtige Choreografie ist eine Mischung aus Tanztheater, Pantomime, Ausdruckstanz und Musical. Blitzschnelle Gesten, die die Worte unterstreichen und so quasi vertanzen. Einwände und Mahnungen werden zu Schritten, verquere, eckige Bewegungen, angewinkelte Arme und Beine visualisieren das melodramatische Geschehen.

Wer aber oder was kann diesen aus der Zeit gefallenen Verein und das Quest-Fest retten? Der plötzlich auftauchende namenloser Ritter mit Helm und in glänzender Rüstung etwa   oder doch nicht? Die Spannung bleibt bis zum Schluss. Ein Kompliment dem Organisationsteam von Steps, das eine solch großartige oder einfach wunderbare Produktion in die Schweiz für zwei Aufführungen nach Zürich und Lugano gebracht hat. Bitte mehr davon – in zwei Jahren.

 

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