Furios bis lyrisch
Bel Air ediert Yuri Grigorovichs „La Bayadère“ nach Petipa beim Moskauer Bolschoi
Bel Air verlegt Yuri Grigorovichs neues „Dornröschen“ mit dem Bolschoi-Ballett Moskau
/img/redaktion/belair_sleepingbeauty.jpg Imperiale Pracht war schon immer eines der Markenzeichen von Petipas „Dornröschen“. Ezio Frigerio, zuständig für die Bühne des Bolschoi-Balletts bei der Neueinstudierung des Nobelwerks 2011 zur Wiedereröffnung des lang rekonstruierten Hauses, hat aufgefahren, als gelte es, den gesamten Zarenhof zu begeistern. Mit seiner imposanten Dekoration, einer gewaltigen barocken Säulenarchitektur, bedient er die Seherwartungen der Zuschauer und outet sich gleichsam als Nachfahre der großen italienischen Vorgänger jener Ära, als das Bühnenbild langsam den Tanz zu ersticken begann. Das freilich passiert im Tempel des Bolschoi-Balletts nicht: Hier hat Yuri Grigorovich die choreografische Oberhand und stellt seine x-te Neuversion des unverwüstlichen Klassikers vor, so eng an Petipas Original wie möglich. Der einst vertriebene Bolschoi-Imperator, kurz vorm 85. Geburtstag in Ehren wieder aufgenommen, weist nach, dass er noch immer souverän auf der Klaviatur des klassisch-akademischen Tanzes zu spielen weiß. Auch wenn er Petipa als seinen Meister anerkennt, mag er doch hier und da die eigene Fantasie eingebracht haben. In zwei Akte, gerahmt von Prolog und Epilog, gliederte er die Handlung. Er vertraut den Part der Carabosse traditionsgemäß einem Mann an und hat, außer einem potenten, verjüngten Ensemble, zwei Funkelsterne der internationalen Szene für die Hauptrollen zur Verfügung.
Svetlana Zakharova, hart auf dem Weg in die Riege der Ballettköniginnen, und ihr strahlender Partner David Hallberg, der feinnervige blonde Elegant aus Amerika, sind ein Traumpaar, das ihren Partien nichts schuldig bleibt. Bei so viel Bravour namentlich in den Variationen genießt man auch einige wenige Uneinigkeiten in den Partnerführungen – sie machen sympathisch, wer da auf der Bühne steht und sich in diesem Fall nicht bloß den Besucheraugen, sondern auch der Kamera ausliefert. Denn Bel Air hat eine der Vorstellungen aufgezeichnet, häufig in der Totalen zur guten Übersicht, und wenn mit Verfolger, dann auch dies ohne Hatz, mit Sinn für das tänzerische Detail, und ohne poppige Schnitte. Selbst der Blick auf die Bühne von oben bietet Sehenswertes: Getanzt wird auf barock ornamentiertem Belag. Auf ihm entfalten sich die großen Ensemblebilder mit effektreichem Schlusstableau, das Ränkespiel zwischen einer auf bös geschminkten Carabosse mitsamt Gefolge aus gehörnten oder rattenschwänzigen Wesen sowie den sanften Begleiterinnen der Fliederfee.
Im großen Walzer des 1. Akts tanzen 16 Paare und 12 Kinderpaare in raumfüllender Formation und mit Blumenbögen: ein üppiger floraler Traum, den allgemein auch Franca Squarciapinos opulente Kostüme – angeblich 400 an der Zahl – trefflich bedienen. Akt 2 leiten Szenen im Park von Prinz Désiré ein, die seine Sehnsucht nach wahrer Liebe gut motivieren. Die Fliederfee hat leichtes Spiel, ihn in ihrem Boot zum Zauberschloss zu führen, nachdem er Dornröschen als Vision erst einmal erblicken konnte. Dort, im schlafenden Königreich, nimmt mit dem erweckenden Kuss und der Hochzeit des Paares auch die Feier des klassischen Tanzes ihren Lauf. Die Feen haben nochmals ihren famosen Auftritt, Carabosse darf letztmalig ihre pantomimischen Künste obwalten lassen, und auch die Märchenfiguren präsentieren sich bestens. Wie hier etwa der Gestiefelte Kater und seine Katze gefasst sind, als rokokohaft kokettes Schäferspiel, kommt der Gedanke an Kitsch gar nicht erst auf. Nina Kaptsova ist eine bezaubernde Florine, Artjom Ovcharenko als ihr Blauer Vogel löst fabulös seine kniffligen Sprungdiagonalen, Maria Allash ist gütig, wie eine Fliederfee zu sein hat. Dass die Demi-Parts und selbst die kleinen Chargen erlesen besetzt sind, spricht für den Standard des Bolschoi-Balletts mit seiner Herkunft aus derselben Schule.
Zakharova dreht prächtig, legt Attituden-Touren wie aus dem Bilderbuch hin; Strahlkraft verbreitet mit brillant gestreckten Sprüngen, seinen Entrelacés und Renversés Hallberg, sogar mit Weißperücke im 2. Akt ein Hingucker. Die Bühne lebt ständig vom allgemeinen Zusammenspiel, und mit wie viel Liebe das Bolschoi-Orchester unter Vassily Sinaiskys Dirigat „seinen“ Tschaikowski spielt, sollte manch anderem Klangkörper Vorbild werden.
Marius Petipa/Yuri Grigorovich: „The Sleeping Beauty“, Bolshoi Ballet and Bolshoi Theatre Orchestra, Moscow 2011, Bel Airs Classiques, 138 Minuten, DVD/Blue-ray
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