Goecke geht nach Hannover
Der neue Ballettdirektor am STAATSTHEATER HANNOVER steht fest. Marco Goecke übernimmt zur Spielzeit 2019/20 die Leitung.
Jörg Mannes präsentiert Tschaikowskys Klassiker in Hannover mit heiteren Effekten und großer Virtuosität
Es ist ein Märchen vom Erwachsenwerden, von erster Blutung, Entjungferungsangst und dem „hundertjährigen“ Schlaf der Abkapselung und Reife, aus dem das Mädchen Dornröschen mit neuem Selbstbewusstsein als Frau hervorgeht. Bereit für den weckenden Kuss des Traumprinzen.
Peter Tschaikowskys Ballettmusik bedient nicht nur die oberflächlich märchenhaften Seiten des Stoffs, sondern lässt unter Walzern und Mazurken vage Gefühle anklingen, die sich in blütenfeinen Adagien aussingen dürfen.
In Hannover hat Jörg Mannes nun eine zauberhaft entschlackte, mit den klassischen Vokabeln der Originalchoreografie von Marius Petipa nurmehr spielende Version entworfen.
Das Bühnenbild sind leere Lichträume von Florian Parbs. Besonders eindrucksvoll ist die Szene gelungen, wenn sich Dornröschen nach der verwirrenden Begegnung mit den Heiratskandidaten im Turm verläuft. Da stürzen per Video Zimmerfluchten und Treppen auf sie ein, bevor ihr im hintersten Eck eine Rose vor die Füße fällt: Stich und Rückzug in den Schlaf.
Die Dornenhecke wächst aus roten Laserstrahlen, die den Raum durchschießen. Darin werden die Prinzen von anderen Frauen mit spitzem Fuß zur Strecke gebracht.
Bis der kommt, der für Dornröschen der Richtige ist. Das ist mit Denis Piza gleichfalls ein Suchender, der erst mal notorisch in die falsche Richtung guckt und das Mädchen anscheinend gar nicht entdecken will. Was einen etwas verwirrenden Wunsch- und Albtraum mit gewissermaßen bester und schlimmster Endprognose zur Folge hat. Dann aber Kuss, und im Pas de deux klassisch unziemliche Tollereien.
Sie schlägt Rad über ihn hinweg, darf in der Hebung alle Glieder hemmungslos verzerrt von sich strecken. Dafür legt Piza noch eine Runde Jetés hin, die sich gewaschen hat. Und die Gruppe reißt rhythmisch die Arme hoch zum Jubelschluss, vertorkelt auch die Linie schon etwas.
Es macht wachsenden Spaß, Mannes’ respektloser und gleichzeitig wiederum hochvirtuoser Neusicht zuzuschauen. Erst hat man Sorge. Die Königin (Mónica García Vicente) in ihrer Verzweiflungsgymnastik, die erst einen Luftballon als Bauch, dann das Baby kriegt, wirkt schon reichlich parodistisch, und die ausgestellte Breitbeinigkeit der Damen bei anhaltendem Port de bras erst recht. Die ausgebremsten Feen-Soli sind trotz modischer Teller-Tutus wenig ergiebig. Hübsch immerhin die kleine, in Erwartung der bösen Carabosse (Cássia Lopes) zitternde Fee. Und die klischeeverkehrten Hüpfer der Männer an Frauenhand.
Aber dann tritt Dornröschen auf, und der Jokus bekommt auch Anliegen und Charme. Catherine Franco mimt anrührend das schüchterne Mädchen, das nach den ersten Schritten auf dem Parkett am liebsten schon wieder weglaufen würde. Die Kerle legen sich als Heiratskandidaten mächtig ins Zeug, da macht Mannes aus Gesten wie Haare-Gelen eine virtuose Posing-Choreografie.
Sie wirbeln Dornröschen kopfüber über sich, zerren sie im Takt hin und her oder trappeln aufgeregt auf der Stelle. Aber mit dem Schwungbein kann Dornröschen eine ganze Runde auf Abstand halten, und doch strecken dann alle Jungs hinter ihr aufgereiht die Hände grabbelnd aus. Mannes nimmt sogar die geführte Drehung von Petipa auf, in der die Solistin auf Spitze den Anträgen Stand halten muss.
Dass sie jetzt erstmal von Männern genug hat, liegt auf der Hand. Schlaf und Träume werden plausibel. Am Ende springt Dornröschen ihrem Prinzen Désiré in die Arme. Und Carabosse tröstet sich mit dem herrisch anbefohlenen Galan einer anderen.
Mannes ist eine heitere, den Kern des Erwachsenwerdens rührend ausdrückende Umsetzung gelungen, die den klassischen Gestus oft mit modernen, alltäglichen, lustigen Bewegungen spickt und zu neuer Virtuosität führt. Anja Bihlmaier dirigiert dazu Tschaikowskys Musik mit kraftvollen, auch harten Impulsen. Begeisterter Applaus.
Wieder am 18. Oktober, 3., 23. November, 21., 23. Dezember., 17. Januar
Artikel aus der „Braunschweiger Zeitung“ mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
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