„Die Stunde da wir nichts voreinander wussten“ von Marco Santi

„Die Stunde da wir nichts voreinander wussten“ von Marco Santi

Ein bunter Lebens- und Todestanz

Marco Santi choreografiert in St. Gallen „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“

Den eigenartigen Titel zu seinem neuen Tanzstück hat Santi nicht selber erfunden: Er stammt von einem Schauspiel ohne Worte, das Peter Handke vor rund 20 Jahren kreiert hat. Ein spannender Vergleich.

St. Gallen, 08/04/2013

Peter Handke ist einer der ganz großen deutschsprachigen Sprachkünstler. Sein Schauspiel „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“, 1992 am Burgtheater Wien in der Regie von Claus Peymann uraufgeführt, verzichtet indessen auf Sprache. Das Stück besteht nur aus Regieanweisungen. Ort der Handlung: Ein öffentlicher Platz. Der wird von Einzelpersonen, Paaren und ganzen Gruppe für kürzere oder längere Zeit besucht oder zumindest durchquert.

Klar, kann dies ein reizvolles Thema für einen Choreografen sein. Marco Santi, in Turin geboren, wirkte vor allem beim Stuttgarter Ballett als Tänzer und Choreograf, bis er 2009 die Tanzkompanie des Theaters St.Gallen übernahm. Hier erfüllte er sich nun seinen lange gehegten Traum, „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ zu tänzerischem Leben zu erwecken. Entstanden ist ein opulentes, überraschendes, leicht surrealistisches Tanzwerk, das beim Publikum sehr gut ankommt.

Ein klarer Erfolg. Einschränkend, wenigstens für primär Literaturinteressierte, muss angemerkt werden, dass Schauspiel und Choreografie atmosphärisch nicht viel gemeinsam haben. Santi hat zwar etliche Handke-Figuren samt Szenenbeschrieb übernommen. Aber während sie auf der Schauspielbühne bewusst schemenhaft erscheinen, sind sie im Ballett prallvoll lebendig. Sie kommunizieren beherzt und beseelt, bewegen sich auf ihre persönliche Weise aufeinander zu. Zur Plastizität trägt das Bühnenbild (Guido Petzold) mit vier hohen Treppenstufen auf der rechten Seite und Videoprojektionen im Hintergrund bei. Fantasievoll auch die oft wechselnden Kostüme (Katharina Beth).

Und nicht nur das. Die Tänzerinnen und Tänzer vergessen gelegentlich sogar ihr Stummsein und geben Laute von sich. Vor allem aber bewegen sie sich zu Musik, die weit mehr als eine rhythmische Unterlage bietet. Zwei Musiker, der Belgier Roderik Vanderstraeten und der Russe Sasha Shlain sampeln und spielen live auf vielen Instrumenten links auf der Bühne, mit sichtbarem Vergnügen. Während die Sopranistin Evelyn Pollock in einer pflanzenbedeckten Krinoline mehrmals singend über die Bühne schwebt.

Die 17-köpfige Tanzkompanie des Theaters St. Gallen, unterstützt von einer Schauspielerin und einem Schauspieler, hat an Marco Santis Choreografie mitgewirkt. Mit dem schönen Resultat, dass alle verschiedenste Bombenrollen zu tanzen haben. Ein Rollschuhläufer, ein Blinder, eine Geschäftsfrau. Eine ganze Flugzeugbesatzung mit Rollköfferchen in einer Art Musical-Auftritt. Eine Hochzeitsgesellschaft, schrill wie aus einem Fellini-Film, mit einem affektierten Transvestiten und einem parodistischen Tangopaar als Gästen. Ein Platzwart, ein Clown und schliesslich versprengte Mitglieder einer Zirkustruppe. Das Nummerngirl ist übrigens die einzige Tänzerin, die einmal Spitzenschuhe benutzt. Alle andern sind barfuss, tragen Turnschuhe, Stiefeletten oder Highheels. Alle wechseln dauernd ihren Stil vom Ausdruckstanz zur Pantomime zum Hip-Hop.

Neu erfunden hat Santi eine weißgekleidete schöne Frau mit langem blondem Haar, eine Fee vielleicht oder ein Schicksalsengel. Oder gar der Tod? Sie trägt einen schwarzen Ballon mit sich, der nicht in die Luft steigt, wenn sie ihn loslässt, sondern zu Boden sinkt. Cecilia Wretemark in der Rolle dieser Frau tanzt öfter als alle andern auf der Bühne, in weit ausholenden Bewegungskreisen. Wenn am Schluss der Platz in der Dämmerung versinkt und das Leben erlischt, wiegt sie sich versonnen auf der Schaukel im Hintergrund.

Nach der Uraufführung von „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ an der Wiener Burg wurde Handke in einem Zuschauergespräch gefragt: „Ist das Stück eine Tragödie oder eine Komödie?“ Der Dichter antwortete: „Weder noch. Beides. Sowohl als auch.“ Bei Santis eindreiviertel Stunden dauerndem Tanzstück überwiegt das Farbig-Verspielte. Aber das Abgründige, Tödliche fehlt beileibe nicht.

Schade, dass Marco Santi am Ende der nächsten Spielzeit das St. Galler Theater verlässt. Er wünscht sich bessere Arbeitsbedingungen und mehr Selbstbestimmung, als ihm das Dreispartenhaus der kleinen Ostschweizer Stadt mit ihren 74.000 Einwohnern gewährt.

Uraufführung 16.3.2013
 

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