„Eine große Ehre“
Tarek Assam zum Sprecher der Bundesdeutschen Ballett- und Tanztheaterdirektoren Konferenz gewählt
„Winde des Volkes tragen mich,
Winde des Volkes reißen mich mit sich,
verstreuen mein Herz,
schwellen die Kehle mir.“
Miguel Hernández
Dieses Gedicht schrieb der spanische Dichter Miguel Hernández (1910−1942) während des Spanischen Bürgerkriegs. Der Deutsch-Argentinier Daniel Goldin wählte es als Leitmotiv für sein Tanzstück, das er als Gastchoreograf für die Auftaktveranstaltung der diesjährigen TanzArt ostwest in Gießen schuf. Hier ist es zur guten Tradition geworden, dass solche Specific Site Projects zur TanzArt entwickelt werden. Dank der finanziellen Förderung durch das Kulturamt der Stadt Gießen kann Ballettdirektor Tarek Assam einen Gastchoreografen einladen, vor Ort mit der Tanzcompagnie Gießen (TCG) zu arbeiten.
In diesem Jahr ist es also Daniel Goldin, der während seiner Zeit als Leiter des Tanztheaters am Theater Münster (1996−2012) immer schon vorhatte, sich an der Tanz-Gala im Gießener Stadttheater zu beteiligen, es aus terminlichen Gründen aber nie schaffte. Erst seine Freistellung durch den Intendantenwechsel in Münster schaffte den nötigen Freiraum für choreografische Projekte andernorts. Für Gießen ist die erste neue Choreografie, als nächstes wird er mit dem Ballett am Theater San Martìn in Buenos Aires (Leitung: Mauricio Wainrot) arbeiten.
Zu den besonderen Bedingungen für die Erarbeitung des „Auftakt“-Tanzstücks für Gießen gehört immer der besondere Ort: in diesem Jahr sind das Hofbarracke, Treppenhaus und Aula des altehrwürdigen Schulgebäudes, das seit einigen Jahren der Fachbereich Architektur der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) nutzt. Für Daniel Goldin, der gewohnt ist mit seinen Tänzern über einen langen Zeitraum zusammen zu arbeiten, war in Gießen besonders, mit der ihm fremden Tanzkompanie und in kurzer Zeit ein Stück zu schaffen (drei Wochen). Und er hatte es zudem mit Tänzern und Tänzerinnen unterschiedlicher Herkunft zu tun: sechs Mitglieder der TCG, die zeitgenössisch tanzen, auch klassisch unterrichtet werden, und zwei Praktikanten des zeitgenössischen Tanzes, sowie die 7-köpfige Shenzhen Dance Group aus Südchina, die derzeit für vier Wochen in Gießen zu Gast ist und während der TanzArt ostwest noch mehrere, auch traditionelle Tänze vorführen wird.
Phänomenal, wie Goldin es geschafft hat, mit den beiden Gruppen ein beinahe homogenes Tanzstück zu kreieren. Er lässt die Ensembles zunächst getrennt auftreten, bis sie im dritten Teil alle gemeinsam tanzen. Auf dem Hintergrund der schwermütigen E-Musik von Brian Eno und den elegischen Geigen von Pachelbel bewegen sich die Tanzenden in der Tradition des Deutschen Ausdruckstanzes und ihren Nachfolgerinnen (etwa Pina Bausch), wie ihn Goldin als einer der wenigen in Deutschland noch vertritt. Das sind vor allem weiche, geschmeidige Bewegungen aus dem Alltag und in Alltagskleidung.
Die Tänzer beginnen jeweils als Gesamtgruppe, suchen Einzelwege der Erfahrung und kehren immer wieder zur Gruppe zurück. Getrieben von den Winden des Schicksals und den Entwicklungen der Gesellschaft. Emotion wird mit dem ganzen Körper dargestellt, nicht über Mimik oder Sprache. Eindrucksvoll sind immer wieder die Gruppenarrangements: einerseits mit gebeugten Köpfen und lang hängenden Armen in Parallelbewegungen, oder bei den Chinesen über das asymetrische Hin- und Herbewegen wie von einer gemeinsamen Wurzel aus. Alle schauen eher unbewegt auf einen unbestimmten Punkt vor sich, doch wenn sie dann alle zusammen ins Publikum blicken und zur drängenden Geigenmusik entschlossen vorrücken, dann ist das höchst eindringlich.
Während die TCG-Mitglieder ihre individuellen Erfahrungen in Paaren machen, − heftige Umarmungen gehören dazu −, ist das Gruppengefüge bei den Shenzhen-Dancern eher als Familie dargestellt, was durchaus die Altersstruktur der Gruppe aufnimmt (von 15-37).
Die TCG beginnt in der Hofbarracke, paarweise ziehen sie über den Hof und tanzen den großzügigen Treppenaufgang des Haupthauses hinauf. Es wirkt tatsächlich, als würden sie „von den Winden“ über die Stufen geschmeidig nach oben geweht. Dann machen die chinesischen Tänzer in der Aula weiter. Schließlich gibt es eine Durchmischung.
Aus dem Durcheinander von 15 Tänzern und Tänzerinnen wird wie durch ein Wunder wieder ein gemeinsamer Bewegungsstrom. Es wird ein Gewoge der Körper und Arme, das symbolisch die Gemeinsamkeiten im Tanz und im Leben ausdrückt. Am Ende steht wieder ein Paar im Zentrum (Marco Barbieri und Hsiao-Ting Liao), die anderen hat der Wind an den Rand des Raumes − oder symbolisch in die Welt hinaus − getrieben. Jede/r muss den eigenen Weg finden. Begeisterter Applaus überschüttete die Beteiligten dieses ungewöhnlichen Kooperationsprojekts.
Noch ein einziges Mal ist „Von den Winden“ zu erleben: am Pfingstsonntag um 11 Uhr, im Hugo von Ritgen-Haus der THM
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