„Listening to Third Grandmother’s Stories“ von Wen Hui. Tanz: Living Dance Studio 

„Listening to Third Grandmother’s Stories“ von Wen Hui. Tanz: Living Dance Studio 

Die Kraft des Erinnerns

Das Living Dance Studio aus Peking in der Hamburger Kampnagelfabrik

Zwei Produktionen hatte Wen Hui, Tänzerin, Choreografin und Gründerin des „Living Dance Studios“ aus Peking bei ihrem dritten Gastspiel in Hamburg im Gepäck: „Listening to Third Grandmother’s Stories“ und „Memory II: Hunger“.

Hamburg, 24/11/2014

Zwei Produktionen hatte Wen Hui, Tänzerin, Choreografin und Gründerin des „Living Dance Studios“ aus Peking bei ihrem dritten Gastspiel in Hamburg im Gepäck: „Listening to Third Grandmother’s Stories“ und „Memory II: Hunger“. Beide spiegeln die Suche einer Generation nach den Wurzeln der eigenen Identität und auch nach denen der ganzen Nation wider. Es ist eine Generation, die vor allem Gleichmacherei kennt, die kaum Respekt vor der menschlichen Individualität erlebt hat.

Beiden Stücken gemeinsam ist eine zwingende Schlichtheit, die gerade in ihrer Beschränkung und Konzentration auf das Wesentliche eine große Magie ausübt. Und die den Hauch einer Ahnung vermittelt, wie es sich angefühlt haben muss, in diesem China des 20. Jahrhunderts gelebt zu haben, mit dem Sturz des streng hierarchischen alten Kaiserreichs, dem 2. Weltkrieg, dem Bürgerkrieg und der Ausrufung der Volksrepublik mit ihrem Mao-Kult, der Hungersnot zwischen 1959 und 1961; später dann mit der Ideologie und Brutalität der sogenannten „Kulturrevolution“, die viel mehr ein Massaker war als eine Revolution, und die nichts mehr mit Kultur zu tun hatte, sondern in erster Linie mit Unterdrückung, Zerstörung, Brutalität, Ignoranz und Gewalt. All das wird im China von heute nur zu gern verdrängt und vergessen gemacht. Umso größer ist das Verdienst des „Living Dance Studios“, mit diesen beiden Stücken auch einen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte Chinas zu leisten.

„Listening to Third Grandmother’s Stories“, das sind die wahren Erlebnisse von Wen Huis Großtante. Zu Beginn sitzt Wen Hui vor dem Vorhang und erzählt, wie es zu diesem Stück gekommen ist. Als ihr Vater vor vier Jahren starb, wurde ihr klar, dass sie nie etwas über seine Geschichte oder die seiner Eltern gehört hatte. Ihre Tante wusste nur, dass es eine Großtante gab, war ihr aber selbst nie begegnet, weil sie fernab in den Bergen wohnte. Wen Hui machte sich auf den Weg zu dieser Frau und verliebte sich umgehend in sie, mit der sie sofort eine Seelenverwandtschaft spürte. Mehrfach reiste sie zu ihr, fragte sie aus über die Geschichte der Familie und ihre eigenen Erlebnisse. 2011 drehte sie einen Dokumentarfilm über diese 83-jährige Großtante. Nach deren Tod entschloss sie sich, diesen Film künstlerisch umzuwidmen und für eine Performance zu verwenden. Dabei bezieht sie auch ihre eigene, mittlerweile 78-jährige Mutter mit ein und Li Xinmin, ein Ensemblemitglied des Living Dance Studios.

Leise tröpfelndes Wasser markiert Beginn und Ende des Stücks, Symbol des Kreislaufs des immer Wiederkehrenden, Gleichbleibenden, Ewigen. Im Großen wie im Kleinen. Die Mutter lässt Wasser in einen Blecheimer plätschern, um T-Shirts zu waschen, die sie später wie bunte Gebetsfahnen im Hintergrund der Bühne aufhängt. Dann beginnen die Geschichten der dritten Großmutter, die stellvertretend steht für eine ganze Frauengeneration. Der Dokumentarfilm wird auf dünne, zart bedruckte Stoffe projiziert, die gestaffelt in den Bühnenraum gehängt sind, die später zur Seite geschoben und um den Körper geschlungen werden – Symbol für strangulierende Enge und Gewalt ebenso wie für Trennendes, Verhülltes, Verborgenes. Zum Schluss werden sie alle beseite geschoben, nach oben geschlagen, um den Blick freizugeben – auf eine Bühne, die ebenso karg ist wie das Leben, von dem hier erzählt wird. Eine einprojizierte englische Übersetzung aus dem Chinesischen macht das Gesprochene verständlich. Das Tänzerische ergänzt das Dokumentarische auf seine Weise – zurückhaltend und sparsam eingesetzt, aber in seiner Schlichtheit und reduzierten Gestik sowie in seiner fast schon quälenden zeitlupenartigen Langsamkeit von großer Kraft.

Deutlich rabiater noch in der Aussage dann „Memory II: Hunger“. 20 junge Leute waren in verschiedene Bezirke des Landes ausgeschwärmt, um in Dörfern Überlebende der großen Hungersnot zwischen 1959 und 1961 nach ihren Erinnerungen zu befragen und diese filmisch zu dokumentieren. 36 bis 45 Millionen Menschen in China waren damals verhungert – Folge der dramatischen Fehlplanung, als im Zuge des „großen Sprungs nach vorn“ Millionen von Bauern enteignet und in die Fabriken abkommandiert wurden. Zu Beginn von „Memory II: Hunger“ leuchten spotartig einzelne große Taschenlampen im Dunkeln auf, dicht am Boden oder am Körper der sieben Darsteller gehalten, so dass der Lichtkegel nur kleine Flächen bestrahlt. Immer wieder flammen diese Lichter auf, wie eine Spurensuche, und immer bleiben sie dicht am Menschen, richten sie sich auf die eigene Person. Schon hieran wird deutlich, worum es im Kern geht: um die eigene Verantwortung, sich der Geschichte zu stellen. Zu fragen. Zuzuhören. Nachzudenken. Hinzuschauen. Auch hier wechseln sich Dokumentarfilme ab mit tänzerischen Elementen. Und es ist beklemmend, was die Nachforschungen der jungen Leute bei den alten Menschen ergeben haben. Diese tristen Lebensumstände. Das karge Land. Die vernachlässigten, verfallenden Häuser. Der Schmutz. Die offenen Feuerstellen. Die Kälte. Der Materialmangel. Die Resignation. Die ganze Trostlosigkeit des Daseins, in die der Besuch der Jungen plötzlich einen belebenden Farbtupfer bringt. Und vor allem eine Aufmerksamkeit, eine Zugewandtheit, ein Interesse, das diese Menschen niemals erfahren haben. Sie berichten von Greueltaten und unvorstellbaren Zuständen, unter denen der Hunger Menschen zu Bestien werden lässt. Sie berichten von den berüchtigten „Kritik“-Maßnahmen der Machthaber, denen sich nicht wenige „Angeklagte“ durch Suizid entzogen. Viele müssen lange in der Erinnerung graben, bis aus ihnen all das erlebte und erlittene Leid herausbricht, das sie in den hintersten Winkel ihrer Seele verdrängt haben, weil es so ganz und gar unerträglich war. „Das Persönliche ist politisch“ war in den 1970er Jahren eine wichtige Parole – selten wurde das so dramatisch deutlich wie in diesen ganz persönlichen, aber hochpolitischen Erinnerungen dieser Menschen.

Auch wenn der Tanz selbst in beiden Stücken eine eher untergeordnete Rolle spielt, so wohnt ihnen doch gerade in der Kombination aus Dokumentation und in ihrer Beschränkung auf das Wesentliche eine enorme Kraft inne und vor allem eine Poesie, die die 90 und 120 Minuten ohne Pause wie im Flug vergehen lassen. Wo immer dieses Ensemble auftaucht: Nichts wie hin!
 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern