Auf dem Narrenschiff
Ein Fotoblog von Dieter Hartwig über Toula Limnaios' „la nef des fols“
Seit der Gründung ihrer Kompanie im Jahr 1996 hat Toula Limnaios 35 abendfüllende Stücke entwickelt. Seit 11 Jahren residiert die eigenwillige Einzelkämpferin mit einem festen Ensemble von sieben TänzerInnen in einer ehemaligen Polizeisporthalle in Berlin Prenzlauer Berg – eine Art Trutzburg, scheinbar uneinnehmbar vom gängigen Tanzdiskurs der Berliner Szene-Orte. Im Mittelpunkt ihrer schwarz-romantischen Tanztheaterästhetik steht der Mensch im Ringen um seine conditio humana. So geht es auch in dem neuen Stück „miles mysteries“, inspiriert von Francisco de Goyas Radierzyklus „Caprichos“ (1793-99), wieder um eine ganze Palette gesellschaftlicher Missstände. Ihre Compagnie, die cie.toula.limnaios, setzt dabei vor allem auf die verstörende Kraft surrealer Bilderwelten.
Sechs Tänzer und Tänzerinnen treten auf die Bühne, packen entschlossen nach Tauen und klettern daran empor. Das mutet zunächst wie Seilakrobatik an, erweist sich aber schnell als ein Sinnbild für die Bindung der menschlichen Individuen an eine höhere Macht: ihr Unterbewusstes, ihre Ängste, ihre Emotionen. An den Tauen proben die Tänzer den alltäglichen Überlebenskampf, suchen Halt, rutschen ab, rebellieren und resignieren, immer wieder auf's Neue. Die gesellschaftliche Norm schnürt ihnen die Luft ab, treibt sie in den Wahnsinn. Sie reagieren mit Leidenschaft, Lastern, wilder seelischer Phantasie.
In Goyas Motiven – ein Themenkatalog menschlicher Desaster, der von Armut über Prostitution bis hin zu brutalem Machterhalt reicht – suchen Limnaios und ihre TänzerInnen einen Blickwinkel auf die Gegenwart. Doch scheint sich, zumindest so verallgemeinert betrachtet wie sie es suggerieren, in den 200 Jahren, die zwischen Goya und uns liegen, nicht viel getan zu haben – wird der Zuschauer doch gleich zu Beginn des Stücks mit Standesdünkel konfrontiert: Der Tänzer Hironori Sugata läuft mit gesenktem Kopf über die Bühne und zählt Münzen. Mit schmerzverzerrten Gesichtern winden sich die anderen TänzerInnen um seine Füße. Aber der ignorante Vermögende bemerkt die Mittellosen nicht. Seine egozentrische Wohlstandsfassade ist eine verkleidete Weltflucht. Er blendet die Wirklichkeit aus, gauckelt sich selbst etwas vor. Das suggeriert auch Sugatas angeschminkte Maske. Von hier aus wäre es zu zeitdiagnostischen Strategien der Selbsttäuschung nicht mehr weit gewesen. Aber eine vertiefte Thematisierung aktueller gesellschaftlicher Problematiken bleibt in „miles mysteries“ aus. Dabei hätte die tänzerisch einwandfreie Kompanie die nötigen Mittel und zeitgenössische Technik parat, um Bilder aus der Verallgemeinerung zu lösen.
Im zweiten Teil des Abends dominieren die psychischen Folgen, die aus gesellschaftlichen Missständen resultieren. Die sieben TänzerInnen führen zur elektroakustischen Musik von Ralf R. Oellertz (stilistisch an diesem Abend ein Industrial-Sound) rhythmisches Funktionieren vor und erinnern dabei an die Pumpenzylinder einer großen Maschinerie. Doch bald zersplittert die Gruppe. Die gemeinsame Selbstentfremdung mündet in den persönlichen Wahnsinn. Unterdrückte Gefühle wie Wut, Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung finden in bizarren Gestalten und Paarkombinationen ihre Übertragung: geschlechtslose Wesen mit Handtaschen über dem Kopf werden Gassi geführt, verlassene Bräute mit Boxhandschuhen beobachten teilnahmslos frisch verliebte Pärchen, ein Gefesselter schwankt in blutrotem Samt über die Bühne. Was hier Schrulle ist und was pathologischer Ernstfall, was Grund und was Folge, was Pathos und was Sozialkritik, das lässt sich nur schwer erkennen. Irgendwann ab der Mitte wird der Abend schlicht zu lang. Die Bilder verdichten sich nicht, sondern schwächen sich in ihrer kontextuellen Unschärfe gegenseitig. Wenn Karolina Wyrwal am Ende des Abends jedoch selbstverloren und laut schreiend über die Bühne stolpert, dann haben zumindest die stummen Schreienden Goyas endlich ein Ventil gefunden. Dass Hironori Sugata dazu einen frisch gebundenen Strick und ein Höckerchen serviert, ist, nun ja, auch eine Lösung. Aber nicht jede dramaturgische Zerfaserung findet durch makabren Humor ein gutes Ende.
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