Jugendballett im Knast
Bundesjugendballett tritt in JVA Fuhlsbüttel auf
Andreas Böttcher, den ich aus meiner Augsburger Zeit kenne, als ich dort Ballchefchef war und „Werthers Leiden“ auf die Bühne brachte, war damals noch ein Kind. Dennoch habe ich zu ihm und seinem Zwillingsbruder Stefan, der unter anderem bei der brasilianischen Grupo Corpo tanzte, nie ganz den Kontakt verloren. Andreas war, als wir uns nach Jahren das erste Mal wieder begegneten, mit seiner Frau Julie Nakagawa bei Hubbard Street Dance Chicago, aber schon wenige Jahre danach gab es Unstimmigkeiten mit der Leitung und die beiden kamen zu dem Entschluss, sich selbstständig zu machen. Mutig, dachte ich – und hörte ziemlich lange nichts mehr. Nun erhielt ich plötzlich eine Einladung zur Abschlussvorstellung eines Projekts des Bundesjugendballetts mit dem Pendant DanceWorks Chicago – dem Projekt von Andreas Böttcher und Julie Nakagawa – im Hamburger Off-Theater im LICHTHOF. Es ist der Hartnäckigkeit von Andreas zu verdanken, dass ich mich in mein Auto gesetzt habe (wegen des Streiks bei der DB) und hingefahren bin. Ich habe es nicht bedauert, trotz der Strapazen!
Vor der Vorstellung gab es einen kleinen Umtrunk, bei dem Andreas Böttcher sowie Lukas Onken (Organisatorischer Leiter des Bundesjugendballetts) erzählten, wie diese Zusammenarbeit anlässlich eines Gastspiels zustande gekommen war – mit John Neumeier, der aus der Nähe von Chicago stammt und seine ersten Ballettschritte in den Räumen tat, die damals Heim der Kompanie von Ruth Page, einer Schlüsselfigur des Vor- und Nachkriegsballetts in den Staaten, waren. Heute beherbergt dieses Studio DanceWorks Chicago. Seine Worte und Erinnerungen daran fand ich richtig anrührend. Ganz nebenbei durften wir auch darauf anstoßen, dass die Finanzierung des Bundesjugendballetts für die nächsten vier Jahre durch den Etat der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gesichert ist. Rüdiger Kruse MdB stieß ebenfalls mit uns darauf an, leider hat er sich nicht geäußert – seine Laudatio anlässlich der Verleihung des Deutschen Tanzpreises Zukunft an das Bundesjugendballett war eine der launigsten in der dreißigjährigen Geschichte dieses Preises.
Zu den Vorstellungen des Abends „OUTSIDE OF THE BOX – A Dance Journey“ kann ich nur sagen, dass sie blendend abliefen. Professioneller kann man die 70 Minuten Tanz und Performance plus 10 Minuten Applaus nicht gestalten. Nur vom Programmzettel hätte ich nicht ausmachen können, welche der sechs Tänzerinnen und sieben Tänzer aus welchem „Stall“ kommen, das Niveau und Engagement ließ sich nicht zuordnen. Was umso erstaunlicher bleibt, als die beiden Gruppen ja nur knapp eine Woche zusammengearbeitet haben.
Ich möchte mit dem letzten Programmpunkt anfangen, der laut Programmzettel und Nachfrage zu Musik von Johann Sebastian Bach von den Tänzern selbst zusammen mit drei Musikern erarbeitet wurde. Gerne hätte ich es einem jungen Choreografen zugeschrieben, der mit jenem kurzweiligen Finale voller choreografischer Einfälle und Überraschungen eine Visitenkarte hinterlassen hätte. Es spricht für diese jungen Leute, dass sie nicht nur ohne zu hinterfragen, sich in ihrer jeweiligen Heimat etwas einstudieren lassen, sondern auch selbstständig auf dieser unschätzbaren Basis weiterdenken.
Die kurzweiligen Programmpunkte bestanden aus weiteren neun kleinen Stücken oder Ausschnitten aus Balletten, wovon zwei aus der „Feder“ von John Neumeier stammen. Stilistisch von durchaus sehr unterschiedlichen Handschriften getragen, gab es keinen Moment, von dem man hätte sagen können, die jungen Tänzer seien überfordert oder etwa im Gegenteil unterfordert gewesen. Auch darstellerisch gab es, soweit das bei solch kurzen Stücken zu sagen möglich ist, schönste Augenblicke, die von künstlerischer Umsetzung zeugen, durch Ideen der einzelnen Choreografen angestoßen. Natürlich muss in diesem Zusammenhang ein großes Lob den Repetitoren, die die Ein- oder Umstudierung der einzelnen Werke beaufsichtigt haben, ausgesprochen werden.
Ich nenne zuerst den Gast Julie Nakagawa, aber natürlich ebenso den behutsamen Kevin Haigen und Yohan Stegli, der nun in dieser Rolle eines künstlerischen Assistenten und Choreografen eine Aufgabe gefunden zu haben scheint, die ihn ausfüllt. Aber – wann immer ich ihn sehe, er könnte gut und sehr gerne noch auf der Bühne sein! (Bei ihm fällt mir natürlich auch ein, welch hervorragende Rolle er spielte, als er sich mit Katja Wünsche, heute Erste Solistin in Zürich, beim Le Grand Prix Eurovision des jeunes danseurs in Neumeiers Cinderella-Pas-de-deux den 1. Preis sicherte; sie sind bisher die beiden Einzigen aus Deutschland.)
Ich werde abschließen mit den Namen der Tänzer, die so überzeugend waren: Imani English, Kody Jauron, Liv Schaffer, Sarah E. Stockmann, Cole Vernon und Matthew Wenckowski aus Chicago und den drei Musikern Aike Errenst (Klavier), Elena Rindler (Violine) und Lucas Rindler, der als Kapuzenmann mit seiner Violine auch szenisch besonders eindrucksvoll war. Giorgia Giani, Nicolas Gläsmann, Maria del Mar Hernandez, Yehor Hodiyenko, Minju Kang, Pascal Schmid, Hélias Tur-Dorrvault aus Hamburg in Choreografien von John Neumeier, James Gregg, Wubkje Kuindersma, Pascal Schmid, Joshua Manculich, Greg Blackmon.
Am nächsten Tag hatte ich eine Karte reserviert für eine Matinee im Staatstheater Braunschweig für die Kindervorstellung „Rumpelplotz und Rotstilzchen“, nach einer Idee und Choreografie von Ilka von Häfen. Leider blieb ich bei Stop and Go (40 km) wiedermal auf der Strecke und traf bei Ende der Vorstellung auf Günther Grollitsch, der mehr Glück gehabt und das Tanzstück gesehen hatte. Mir berichtete er, dass die bilderreiche Collage in seiner Detailverliebtheit eine gute und humorige Arbeit gewesen sei. Er bedauerte, dass ich es verpasst hatte. Grund genug, dieses Urteil eines Choreografen weiterzugeben, der heute in der Leipziger Agentur der ZAV für Tanz tut, was er kann, um Tänzern, Choreografen und überhaupt allen, die mit Tanz zu tun haben, bei der Jobfindung zu helfen.
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