„Gefangen“ von Hans Henning Paar

„Gefangen“ von Hans Henning Paar

Leben zwischen Licht und Schatten

Hans Henning Paars „Gefangen“

Holocaust-Assoziationen drängen sich auf, während Marko Kassl mit einem Arrangement von Bachs 1. Partita für Solovioline in g-moll einen letzten Totentanz über die Tasten seines Akkordeons jagt.

Münster, 22/11/2015

Hans Henning Paars Choreografie ist sehr viel komplizierter und rätselhafter als vor vielen Jahren Bernd Schindowskis verstörendes Tanzstück „Das kriminelle Kind“ in Gelsenkirchen, in dem anstelle von Musik Jean Genets grausame Erzählung rezitiert wurde und der Tanz um das Abdriften aus einem normalen Leben in die Kriminalität durch Vernachlässigung eines Kindes kreiste. Bei Paar dagegen verliert sich „Lui“ (Er) in einem Wirrwarr düsterer und lichter Szenen mit Menschen ohne sichtbaren Bezug zu ihm.

Unbekümmert betritt der junge Wanderer (Jason Franklin) den fremden Raum, der nach hinten von einer Reihe hässlicher, dunkelgrauer Metallkabinen begrenzt wird. Der Naturbursche in kurzen Hosen legt den Rucksack ab, aalt sich auf einem winzigen (Kunst-)Rasenstück, das er wie eine Picknickdecke ausbreitet. Ein harmloser Springinsfeld mit nackten Beinen und Füßen ist das, der unversehens von der Sonnenseite des Lebens in tiefe Finsternis gerät. Dunkles Grollen und leichte Akkordeonklänge deuten den Kontrast an. Wie von Geisterhand bewegt, weichen die unansehnlichen Container auseinander, vermehren sich auf zehn und erweisen sich als Zöglingszellen einer Erziehungsanstalt. Wie giftige Insekten staksen zwei Erzieher (Agnès Girard, Valentin Braun) herein, dirigieren, kommandieren und malträtieren die Gruppe der Zöglinge in schwarzem Turnzeug. Der Wanderer wird überwältigt und in eine der Zellen gesperrt.

Die Gruppe demonstriert Gefängnisalltag mit einem Eimer, der für aller Notdurft mitten im Raum steht und auch für allerlei widerwärtige Schikanen missbraucht wird. Immer wieder klatschen die Hände auf die nackten Gliedmaßen, verzerrt sich die Mine zu lautlosem Schrei.

Dann zeigt sich die Welt wieder hell und heiter: auf einer grünen Wiese tanzt und turtelt ein Paar (Priscilla Fiuzza, Alessio Sanna). Ein Verführer (Adam Dembczynski) macht dem jungen Mann Avancen. Von Natur und Intimität wechselt die Szene in eine Stadt, wo alle hasten, ohne nach rechts oder links zu schauen. Frivole Lebenslust verströmt eine kleine Gruppe in Partykleidern, die sich im Tanzcafé amüsiert. Auch hier lauert die Gefahr des Abgleitens, Verlorengehens.

Schnell umzingelt die Phalanx der Zellen die Menschen wieder. Eine zum Tode verurteilte Frau (Maria Bayarri Pérez) wird von einem Richter in schrillem Ornat und Gehabe (Agnès Girard) verhöhnt und erhängt sich in den Sprossen einer Strickleiter. Das „Volk“ – nun wieder wie zu Beginn Zöglinge der Erziehungsanstalt – entschwindet in Nebelschwaden. Holocaust-Assoziationen drängen sich auf, während Marko Kassl mit einem Arrangement von Bachs 1. Partita für Solovioline in g-moll einen letzten Totentanz über die Tasten seines Akkordeons jagt.

In Paars Stück verliert sich die Lebensspur des jungen Mannes. Dass irgendwann einer in gleicher Kleidung wie in der ersten Szene – nur die Hose ist jetzt lang, aber aus demselben Stoff – in der Menge steht und sich dann entfernt, erklärt nichts. Auch wird nicht deutlich, was die „Gefangenen“ in einer Erziehungsanstalt verbrochen haben. Sie sehen alle so nett aus, geben sich meist so normal, wenn die langen Frauenhaare fliegen, die Jungen sich balgen. So bleibt „Gefangen“ ein reichlich nebulöses Stück über Licht und Schatten im menschlichen Leben, über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit, innere und äußere Zwänge, Ängste und Hoffnungen.

Beeindruckend an dem neuen Münsterschen Tanzabend ist das Akkordeonspiel von Marko Kassl zwischen düster grollenden elektronischen Klangeinspielungen. Die 14 Tänzer zeigen in kurzen oder auch längeren Passagen ihr Können unterschiedlichster zeitgenössischer Techniken mit gewagten artistischen Elementen – vorzüglich insbesondere Ako Nakanome als „leichtes Mädchen“ im zitronengelben Kleidchen im Stil der Zwanziger Jahre, Thanh Pham als gequälter Gefangener, die auch schauspielerisch sehr ausdrucksvolle Maria Bayarri Pérez und die vielseitige, sehr zarte Agnès Girard. Nur fehlt die ordnende Hand des Choreografen, der sich diese Qualitäten zunutze machte für sein durchaus aktuelles Thema.

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