Ein Neuer für Hannover
Nachfolger für Marco Goecke steht fest
Bigonzettis Kafka-Ballett „Der Prozess“ bei den Ostertanztagen in Hannover
Das Thema von Bigonzettis Hannoverschem Auftragswerk nach Kafkas unvollendetem Roman „Der Prozess“ zur Eröffnung der diesjährigen „Ostertanztage“ am Wochenende ist an aktueller Brisanz kaum zu überbieten: Unversehens gerät ein braver Zeitgenosse in die Maschinerie eines korrupten, gnadenlos bösartigen Apparats – sei es nun machtgeile Bürokratie und Gerichtsbarkeit von einst oder Mobbing und „die Lügenpresse“ im Medienzeitalter. Kafka zeichnet in schnörkellos nüchterner Sprache eine brillante Karikatur von gesellschaftlicher Schikane am Beginn des 20. Jahrhunderts. Mutig, wer dieses literarische Meisterwerk in einem anderen künstlerischen Genre ins Heute zu holen versucht. Mauro Bigonzetti hat‛s gewagt – und immerhin als grandioser Entertainer bei der Premiere „standing ovations“ des Hannoverschen Publikums geerntet.
Kafkas Parabel dient Italiens witzigstem Choreografen quasi nur als Stichwortgeber. Josef K., allseits respektierter Bank-Prokurist und Mieter eines Zimmers in einer bescheidenen Privatpension, wird am Morgen seines 30. Geburtstages aus heiterem Himmel verhaftet. Weshalb und von welcher Instanz bleibt völlig nebulös. Zwölf Monate, exakt bis zum Vorabend seines 31. Geburtstages, dauert K.s Odyssee durch Kanzleien, Amtsstuben und improvisierte Gerichtsräume. Seine Karriere ist ruiniert. Überall stellen sich dem biederen Junggesellen Frauen in den Weg, die nichts anderes im Sinn zu haben scheinen, als ihn zum Zeitvertreib zu verführen – ob junge Pflegerin des Advokaten oder andauernd waschende Ehefrau des Gerichtsdieners. Der Alptraum endet mit der brutalen Abschlachtung des vermeintlichen Delinquenten in einem Steinbruch durch zwei ominöse, feiste Auftragskiller. Stoff also für ein Grusical à la „Rocky Horror Show“. Die fatale Attacke mit dem Metzgermesser künden am Ballettabend künstlerisch verfremdete Blutströme auf der grauen Steinwand. Der virtuelle Lebenssaft strömt in akkurat abgezirkelten Rechtecken über die steingraue Pappmaché-Wand. Dabei lässt Bigonzetti „Herrn K.“, mit zerknüllten Zeitungsseiten geknebelt, unter Bergen von Gazetten und rosa Flugblättern, die vom Schnürboden flattern, ersticken. Ihm kann auch das „Newspaper Girl“ nicht mehr helfen.
Das Schutzengelchen, wunderbar getanzt von Steffi Waschina, ist Bigonzettis Symbolfigur für die bösen neuen Medien. Aber sie ist so nett und hilfsbereit wie Niklas, die Dichter-Muse in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, oder eben ein Schutzengelchen. Jedenfalls erinnert das fast omnipräsente Kind in dem raschelnden Fetzenkleid und Metalllettern als Helm fatal an die TV-Reklame eines deutschen Versicherungskonzerns.
Und der kunstgewerbliche Blutstrom inmitten eines ansonsten schwarz-grau-weißen Ambientes ist symptomatisch für Bigonzettis Choreografie. Da spürt und sieht man die Schablone – zugegeben: Bühne und Video-Design von Carlo Cerri sorgen für spektakuläre Effekte der Szenen- oder Emotions-Wechsel, wenn etwa das romanische Domgewölbe nach vorn gezoomt wird und plötzlich hinten Stapel über Stapel von Zeitungsbündeln und Akten hinter hohen Flügeltüren zur nächsten Episode überleiten. Oder wenn Herrn K.s Stube zur furchterregenden, überdimensionalen Gefängniszelle mit Käfigstäben auf der Wand und Gittern vor dem Fenster mutiert. Der Tanz ist allzu schön anzuschauen, allzu gefällig choreografiert sind die Grüppchen von Bediensteten, Gaffern, Polizisten, Beamten, Wäscherinnen, Pflegerinnen und das Heer der Bankangestellten. Wie Roboter und Marionetten bewegen sich alle – gut geölte Rädchen in der Maschinerie. Synchron springen und hüpfen die Gaffer. Mit zackigen Bewegungen arbeiten Bankangestellte, klopfen und pochen eifrig mit den Fingern auf die Tische. Waschfrauen schrubben mit Holzklöppeln über ihre Waschbretter. Nur die lebenslustige Pflegerin (Catherine Franco) und die geile Waschfrau (Cássia Lopes) brechen aus dem gesichtslosen Schema aus, bespringen Herrn K. förmlich, umklammern seine Mitte mit ihrem ganzen Körper, locken und lachen. Auch Denis Piza als dieser „Herr K .“ zeigt menschliche Züge, rauft sich die Haare, will fliehen aus diesem Alptraum, der ihn heimsucht und fest in den Fängen hält.
Die Klangcollage (vom Band) pendelt – so kontrastreich wie publikumsgefällig – von Monteverdis reiner Renaissance über „lammfromme“ barocke Italiener bis zu Henryk Góreckis hinreißender, weithin bekannter 3. Sinfonie der Klagelieder. Eigentlich viel zu edel zu dem Alptraum auf der Bühne – trotz des brüllenden Löwen zwischendrin. Aber die Betroffenheit des Zuschauers hält sich in Grenzen. Der Effekt triumphiert.
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