„Love“ von Sharon Eyal. Tanz: Sofie Vervaecke, Claudia Gil Cabús, Sandra Bourdais, Marta Cerioli und Ensemble

„Love“ von Sharon Eyal. Tanz: Sofie Vervaecke, Claudia Gil Cabús, Sandra Bourdais, Marta Cerioli und Ensemble

Die Liebe finden

Das Staatsballett Hannover mit „Du bist so schön“

Sie sind fast alle noch da, die Tänzerinnen und Tänzer, die 2019/20 zum Staatsballett nach Hannover kamen, um mit Marco Goecke zu arbeiten. Nun, da er nicht mehr am Hause ist, tanzen sie mit bewundernswerter Energie die Choreografien von wechselnden, international renommierten Gastchoreograf*innen.

Hannover, 06/02/2024

Sie sind fast alle noch da, die Tänzerinnen und Tänzer, die in 2019/20 zum Staatsballett nach Hannover kamen, um mit Marco Goecke zu arbeiten. Nun, da er nicht mehr am Hause ist, tanzen sie mit bewundernswerter Energie die Choreografien von wechselnden, international renommierten Gastchoreograf*innen. Unter der besonnenen kuratorischen Leitung des nachgerückten Ballettdirektors Christian Blossfeld (früher Goeckes Vize) arbeiten sie mit vorbildlicher Disziplin weiter – auch ohne ihr künstlerisches Leitbild.

Es wird zwar noch das Goecke-Repertoire getanzt – auf das sie spezialisiert sind – aber ohne seinen künstlerischen Urheber als Chef und Probenleiter. Noch nicht einmal für 1-2 Tage Wiederaufnahmeproben darf Marco Goecke die Staatsoper betreten. Zu tief der Graben zwischen dem niedersächsischen Kulturministerium, der Oper und ihm, zu schlimm der Schaden, den er dem Ansehen der Staatsoper mit seinem Ausraster letztes Jahr zugefügt hat.

Die Hauptprotagonist*innen aus Goeckes Ensemble: Sandra Bourdais, Maurus Gauthier, Ana Paula Camargo, Marta Cerioli, Louis Steinmetz – um nur einige zu nennen – finden sich wieder in mehr oder weniger herausragenden Partien der angereisten choreografischen Gäste und meistern diese Aufgabe bravourös!

In der aktuellen Produktion „Du bist so schön“ sind drei verschiedene weibliche Handschriften zu erleben: den Anfang macht die in Deutschland lebende Portugiesin Liliana Barros mit „Archium“. Der Titel (Archiv) verweist auf etwas, das alle Lebewesen – vom kleinsten Organismus bis hin zu uns Menschen – durch eine zentrale Erbinformation verbindet. Auf dieses Verbindende zu schauen, ist das Anliegen von Liliana Barros.

Auf der mit drei riesigen Operafolien eingegrenzten Bühne befindet sich ein metallisches Objekt, das die Choreografin wie eine uralte DNA-Struktur der Menschheit interpretiert. Auf diesem Gerüst sitzt und hängt die Compagnie wie eine lebendige Gruppe, Wesen zwischen Mensch und Tier. Ihre neongrünen Ganztrikots zusammen mit phosphoreszierenden Lichteffekten schaffen eine futuristische Atmosphäre. (Die eindrückliche Beleuchtung stammt von Tanja Rühl). Ganz langsam kommen sie in Bewegung, krabbeln, kriechen, zucken und entwickeln einen faszinierenden Tanz, der sich aus einer Verbindung von archaischen, animalischen und tänzerischen Motiven ergibt. Dies zu einer beeindruckenden elektronischen Soundcollage von Martin Mitterstieler, die im Probenprozess entstanden ist und hier zusammen mit der Choreografie ihre Uraufführung erlebt. Das Publikum wird hineingezogen in einen kollektiven, mysteriösen Tanz von großer Intensität. Es entsteht ein faszinierendes Tableau von einer Art Schwarmintelligenz, die unserer Spezies das Überleben sichert. Ein sehr artifizielles, gelungenes Projekt!

Im zweiten Teil dann „Busk“ von der Kanadierin Aszure Barton, die diese Choreografie ursprünglich für ihre eigene Compagnie in New York als abendfüllendes Stück konzipierte und in 2009 herausbrachte. Nun wird sie in Hannover in einer Kurzversion präsentiert. Das Thema: der Künstler, seine Darbietungen und seine Beziehung zum Publikum. Dabei bezieht sie sich auf die Straßenauftritte mit Tanz, Musik und Jonglage (to busk) von freischaffenden Künstler*innen, die so unaufgefordert auf sich aufmerksam machen und hoffen, damit Geld einzusammeln. Bartons energiegeladenes und humorvolles Bewegungsvokabular wirkt – trotz aller Rasanz bei den Auftritten – doch zu anspruchslos, um auf dieses sensible Thema zu verweisen. Ihr Tanz mit zum Teil akrobatischen Szenen wie Salto rückwärts und Double Tours en l´airs ist zwar sehr unterhaltsam und wie ein zeitgenössisches Divertissement arrangiert – er unterschreitet aber insgesamt das Niveau dieser Compagnie. Trotz allem: großer Applaus. – Manche Choreografien werden eben durch ein gutes Ensemble geadelt.

Als letztes dann „Love“ von Sharon Eyal: auch dies eine Wiederaufnahme von 2003, damals für die Batsheva Dance Company in Tel Aviv kreiert, mit Neubearbeitung für Hannover. Die Choreografin ist die Einzige, der es gelingt, mit ihrem Tanz diesen magischen Moment heraufzubeschwören, den Goethe wohl mit seinem berühmten „Verweile doch, du bist so schön“ meinte und dessen Zitat titelgebend für diesen Ballettabend war.

Die israelische Choreografin, deren Ballette weltweit getanzt werden, hat einen zunächst hart anmutenden Stil: hautenge Trikots, hämmernde Beats, minimalistische Bewegungen in radikal repetitiver Art dargeboten und das androgyne Erscheinungsbild der Tänzer*innen können die Zuschauer irritieren. Im Verlaufe ihrer Choreografie entsteht aber ein ganz eigentümlicher Sog: die pulsierenden Bewegungen der Tänzer*innen lassen die Gruppe zu einem Organismus verschmelzen, der eine magische Wirkung erzielt. Immer emotionaler wird der Tanz, begleitet von einem lauten Technobeat, der hier verschmolzen wird mit französischen Chansons, und es entwickelt sich ein gemeinsamer Gruppenpuls, aus dem immer wieder einzelne Darsteller*innen ausbrechen. Mit ihren schwarzen Trikots und nackten Beinen präsentieren die Tänzerinnen (in einer supertiefen II. Position) Kontraktionen, die so stark sind, dass sie sich festhalten müssen. Dann wieder hohe Developpés und vielfach wiederholte Trippelbewegungen, mit denen sie sich zurück in die Gruppe begeben. Sharon Eyal praktiziert die Kunst der Repetition: 5,6,7,8 oder 10 x wird ein Motiv oder eine kleine Bewegungsfolge wiederholt, doch bevor es langweilig wird, wechselt sie zu einem anderen Motiv. 

Die Choreografie mäandert in einem ewigen Puls dahin und am Schluss ist man verblüfft, wenn der Tanz zu Ende geht. Zum Song „From a Shell“ von Lisa Germano, der in einer Endlosschleife den letzten Satz: „There is love, there is love to be found“ wiederholt, tanzen der Reihe nach alle Damen in einem Solo ihre Sehnsucht heraus. Besonders eindrucksvoll hier Giada Zanotti, Sandra Bourdais und Marta Cerioli, die sich förmlich zerreißen in ihrem Wunsch nach Liebe. Da hätte man noch gerne die Soli der Männer gesehen – gar nicht zu sprechen von möglichen Duetten. Verweile doch …

Die Compagnie wirkt wie befreit nach dem Drama um Marco Goecke und tanzt mit Leidenschaft und hoher Intensität. Doch würde man ihnen eine neue künstlerische Leitfigur wünschen, die die Entwicklung der einzelnen Tänzerpersönlichkeiten im Blick hat und die für eine innere Kontinuität des Ensembles in der Zukunft sorgt.

 

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