Ein Neuer für Hannover
Nachfolger für Marco Goecke steht fest
Kein Text über Goecke ohne das Wort „fiebrig“; über Foniadakis kein Text ohne das Wort „dynamisch“. Warum auch um das Offensichtliche einen Bogen machen? Man kam ihm höchstens aus dem Weg gehen. Und das haben zur Premiere von Andonis Foniadakis‘ „Ikarus“ in der Oper Hannover nach nur wenigen Minuten mehrere Zuschauer*innen im Publikum gemacht und den Saal verlassen. Wer den dramaturgischen Ansatz Foniadakis‘ kennt, wundert sich darüber nicht. Prolog oder Epilog? Erst mal entspannt reinkommen? Und hinten dann genüsslich ausklingen lassen? Nicht mit diesem Choreografen. Foniadakis haut immer direkt in die Vollen. So, wie er erst kürzlich in Kassel mit „Der Tod und das Mädchen“ das Publikum an der emotionalen Gurgel gepackt hat, sollte man auch hier besser vorher noch mal tief durchatmen.
Mit schwarzen Flügeln ausgestattet liegt gleich zu Anfang Ikarus am Boden. Aus, Ende, vorbei. Der Tod hat ihn schon geholt. Sein Absturz ist nur noch ein bedrohliches Echo, ein permanent sinkender Ton (Musik: Julien Tarride), ein irritierend flirrendes Lichtgewitter (Bühne und Licht: Sakis Birbilis), schneller als jeder menschliche Puls. Foniadakis macht das aber erfreulicherweise nicht zum abgeschmackten moralischen Zeigefinger. Dass das kein gutes Ende nimmt, ist eine veraltete pädagogische Geißel, die das Eigentliche zu überblenden versucht. Der Fokus auf den niederschmetternden Ausgang des Versuchs, sich im übertragenen Sinn über die Dinge zu erheben, blendet in der Regel aus, welche Fähigkeit des Menschen darin steckt: die Fähigkeit, das Unmögliche zu erträumen.
Geburt des Sohnes
Deshalb beginnt alles noch mal von vorn. Der Gefallene kommt auf die Füße, gelangt an den Rand der runden, podestartigen Bühne. Um dort, breitbeinig, zwischen den Schenkeln, den eigentlichen Ikarus förmlich zu gebären. Floris Puts gibt diesen Neuankömmling erst noch mit unsicheren Schritten, ein Gurren schwirrt durch den Raum. Zu sicherem Stand verhilft ihm Jamal Uhlmann, Ikarus‘ Vater Daedalus. Er ist es auch, der den Sohn gleich zu Anfang mit einer Hebefigur in ein zentrales Bild setzt: Er hebt den Sohn vom Boden ab und verhilft ihm, wie in einer Variation des Pas de poisson, der Fischpose, kopfüber zum Fliegen, mit weit ausgebreiteten Armen.
Was aber nicht bedeutet, beide wären eins. Ikarus trägt ein weich fließendes Kostüm in ruhig gesättigtem, dunklem Rotton; sein Vater dagegen steckt in einem silbrig-kalten, knappen Panzer. Symbolhaft spricht Kostümbildner Anastasios Sofroniou im Programmheft zum einen von verbrannter Haut (rot), zum anderen von einem Schutzschild, aber auch von Flugzeugen (silbern). Das wiederholt sich vielfach. Die anderen Tänzerinnen und Tänzer tragen jeweils eins dieser beiden Kostüme.
Antipoden aus Ratio und Emotio
Auch musikalisch sind diese fast schon als gegensätzlich lesbaren Aspekte wahrnehmbar. Tarride stellt elegische, fast tragische Schläge neben mechanisch-technisches Klacken und Ticken. Gleichzeitig ist das das unvermeidliche Nebeneinander von Ratio und Emotio, das für Foniadakis so zentral ist. Diese Ratio ist die Grundlage für die technische Möglichkeit des Fliegens. Dabei zeigt sich, dass das Wort „vermessen“ sowohl ein Verb als auch ein Adjektiv ist. Von seitens des Vaters kommt die Vermessung, die technische Ausmessung. Kreisförmige Linien am Boden zeichnen das sichtbar nach, Quadrate, wie geometrische Skizzen eines Bauplans. Ein beweglicher Lichtpunkt tastet die Linien exakt ab. Der Rand der Bühne leuchtet verlaufend auf und blendet ab. Flughafen, Landebahn, Radar. In diesem in sich geschlossenen, vermessenen Universum ist Ikarus in jugendlichem Leichtsinn vermessen. Die Emotionen drängen, eine flirrende Suche nach einem Ausweg, nach einem Fort-von-hier.
Dieser von innerem Druck getriebene Zustand wird schließlich spürbar weicher, wenn die Tänzerinnen des Ensembles hinzukommen. Plötzlich bleiben die Bässe aus, das Fließen der nicht enden wollenden Bewegungen wird weicher. Gebremst wird aber trotzdem nichts. Selbst in Ensembleszenen stellt Foniadakis die individuellen Tänzer*innen deutlich heraus; die klassische Synchronizität wird nur als Idee angedeutet. Weil er aber keine Geschichte erzählt, vergeht die Zeit nicht. Eine Art elegische Absenz im Nachdenken, retardierte Schönheit, die in der Dynamik still zu stehen scheint.
Gefährliche Anziehungskraft
Bis die Sonne alles übernimmt. Wie ein Tor aus riesigen Kristallen dominiert sie die Bühne. Gebrochene Lichtstrahlen ziehen einzeln weit in den Saal. Ihre Faszination und Anziehungskraft ist aber ganz klar eine gefährliche. Die aus ihrem Inneren quellenden Tänzer*innen tragen mit ihren Kostümen das Grau von Asche. Ein unmissverständliches Menetekel. Weit über ihre Köpfe erheben sie Ikarus, bevor er wieder am Boden landet und, kopfüber, von seinem Vater in die gleiche Pose wie zu Anfang gebracht wird. Zum Schluss bleibt ihm nur noch ein wildes Solo, inmitten der Sonne. Losgelöst, befreit.
Ikarus‘ Tod, dieses fatale Ende, muss man nicht zwangsläufig als Versagen oder Fehler lesen. Der Moment der Hybris steckt schließlich schon im Akt des Abhebens. Und schließlich hat Ikarus es geschafft: Er ist geflogen. Diese Tatsache wird durch seinen Tod nicht aufgehoben. Die Entsprechung dafür findet sich in einem Gedicht von Julien Tarride, das mit der Musik verwoben ist. Darin heißt es: „Freedom lives not in heights attained, / But in the courage to rise, unchained.“
Das lässt sich auch metaphorisch lesen: Wer „der Sonne zu nah“ kommt erlebt den ultimativen Höhepunkt der eigenen Existenz. Was kann für denjenigen danach im Leben noch kommen, außer ein Weg bergab? Deshalb ist der Absturz auch als „Reise“ deutbar: „A journey not of loss, but reconcile, / A rediscovery of what makes life worthwhile.“ Ikarus ist ein Mensch. Und als solcher wird er immer wieder das gleiche tun. Und wir schauen atemlos zu.
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