„Constellation Septem“ von Yvruk

Konzept braucht Choreografie

Vierteiliger Abend „Kaleidoskop“ am Theater Chemnitz

Fürs Berghain reichts nicht, denn Techno rettet eben nicht alles. Wie der Moment gelingt, zeigt hier stattdessen ausgerechnet (mal wieder) die Neoklassik.

Chemnitz, 20/10/2024

Die Reihenfolge der einzelnen Stücke an einem mehrteiligen Abend wirkt ja gern mal wie ein Mysterium. Ist es aber in der Regel nicht. Schnöde bühnentechnische Anforderungen sind meistens der Grund für Entscheidungen. Im Fall des neuen Ballettabends „Kaleidoskop“ am Theater Chemnitz könnte man genauso gut würfeln: Jede andere Abfolge der Arbeiten würde genauso funktionieren. Das spricht für die einzelnen Konzepte.

Als erstes dürfen die Tänzerinnen und Tänzer ran, die für Fabrice Guillot in „Vertikale Spiele“ im Wortsinn in den Seilen hängen. Erst horizontal gespannt, ermöglichen sie ungewohnte Schräglage. Später dann, dank Hüftgurt, geht’s hoch hinaus. Ein freies Schwingen, das laut Programmheft „den Tanzraum um die dritte Dimension“ erweitert. Angesichts dessen kann man alle Tänzer*innen dieser Welt mit den Zähnen knirschen hören: Keine Bewegung ist zweidimensional, weil sie immer im Raum stattfindet. Und als Erweiterung entpuppen sich die Seile leider auch nicht. Ganz im Gegenteil. Sie geben Begrenzungen vor, Einschränkungen, Versuche, sich nicht zu verheddern. Wenn einzelne Tänzer*innen an ihnen schließlich von der Decke hängen, wird klar: Für solche Aktionen braucht es eine ganz andere körperliche Ausbildung als die eines Tänzers. Entsprechend ist das nett anzusehen, bleibt aber bei bescheidenen Andeutungen, bei einem Austesten der (Un)Möglichkeiten.

Ambivalenz in der Kommunikation

Austesten braucht dagegen Yvruk nichts mehr. Sein „Constellation Septem“ ist die sicherste, klarste und interessanteste Arbeit des Abends. Hier weiß ein Choreograf ganz genau, wie dünn die Linie zwischen verschiedenen Formensprachen sein kann. Er packt eine siebenköpfige Gruppe auf die Bühne, in die Koh Yoshitake schon allein wegen seines Kostüms nicht so ganz passt. Aber eben nur ein bisschen. Das ist der Punkt. Seine fransenbesetzte Hose, die mit jeder Bewegung ihr Eigenleben zeigt, ist das Gegenteil von Stromlinienförmigkeit. (Damit lässt Forsythes „Enemy in the Figure“ grüßen.) Alle anderen sind aalglatte Gestalten, die sich neoklassisch in wunderschönen, großen Bögen und auf Spitze um Contenance bemühen. Yoshitake aber macht da nicht ganz mit. Heimlich jubelt er der Gemeinschaft sozusagen ein paar bis dato unbekannte Gewürze unter, das aber völlig lässig und unaufdringlich. Die Dub-Beats von Porter Ricks legen sich entspannt drüber. Flackernde Impulse, eine leichte Ambivalenz in der Kommunikation, aber ohne Reibungen. Der Vorhang senkt sich irgendwann langsam vor dieser Spielerei. Wahrscheinlich geht die irgendwo anders einfach weiter. Zumindest wünscht man sich das.

Ein klares Ende dagegen gibt es im Fall von „Here we stand“ von Tú Hoàng. Seine Techno-Meute geht am Ende einer langen Party wohl der aufgehenden Sonne entgegen. Warum, ist unklar. Für das Berghain geht zwar auch immer wieder die Sonne auf, aber von dieser Truppe käme dort keiner rein. Und vom Hedonismus in der Berliner Institution gibt’s hier auch nichts. Hier wird viel rumgelaufen, gerannt und vor allem synchron Frontalunterricht geübt. Hingabe an den Moment, wie man das unter wummernden Beats im Club gemeinschaftlich macht? Fehlanzeige. Was der Titel will, bleibt genauso im Dunkeln. Mit eventueller Selbstermächtigung hat das jedenfalls nichts zu tun. Da hat es jede Menge Ideen, aber kein Konzept, das das Publikum abholt.

Zum Glück aber drückt einen Andonis Foniadakis‘ „Dreamwave“ zum Abschluss derart in den gepolsterten Sessel, dass man als Zuschauer dann doch noch durchaus zufrieden den Saal verlässt. Während hinter der Bühne die Tänzerinnen und Tänzer wahrscheinlich direkt ins Sauerstoffzelt getragen werden. Die Musik der Cocteau Twins gibt nämlich für alle Beteiligten eine Geschwindigkeit vor, bei der einem schwindlig wird, ein andauernder „Wasserfall“ aus Bühnennebel im Hintergrund zieht einen dabei noch mehr in den Strudel der Wahrnehmung. Ohne Auftakt krachen die Tänzerinnen und Tänzer in engen, pinkfarbenen Trikots direkt in eine (wieder) neoklassische Bewegungssprache, die so schnell daherkommt, dass sie fast wütend wirkt. Was dem Ensemble hier abverlangt wird, ist immens. Alles wirkt wie ein einziger Atemzug, aber trotzdem ohne Hektik. Nur vom Zuschauen ist man am Schluss derart außer Puste, dass eins doch klar wird: In der Reihenfolge des Abends muss dieses Stück als letztes kommen. Danach geht nämlich einfach nichts mehr. 

 

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