Frida Kahlo, der Tod und die Bedeutung von Farben
„Frida“ von Ricardo Fernando am Staatstheater Augsburg
Gleich drei energetisch unglaublich aufgeladene Uraufführungen sind in der jüngsten Ausgabe der Augsburger Produktionsreihe „Dimensions of Dance“ zu erleben. Frei von jeglicher inhaltlichen Klammer werden hier die choreografischen Stile der einst selbst akademisch-klassisch ausgebildeten, nun ganz zeitgenössisch arbeitenden und international gefragten Choreografen Andonis Foniadakis und Douglas Lee sowie ihrer Kollegin Young Soon Hue gebündelt – und das höchst eindrucksvoll.
Ihre jeweilige Art des Schrittmachens unterscheidet sich dabei deutlich, bleibt in ihrem Atmosphäre schürenden Drive und dem motorisch vermeintlich freien Bewegungsschlängeln der Tänzer*innen in einem visuell – mittels Licht- und/oder Nebeleffekten – klar definierten Raum jedoch durchaus vergleichbar. Der nachhaltige Eindruck einer enormen Qualitätsfülle an handwerklich beeindruckender Diversität resultiert letztlich daraus. Vor dem rasanten tänzerischen Tempo des Dreiteilers muss jede Beschreibung kapitulieren.
Munter verspielt und athematisch präzise: „Bonds“ von Andonis Foniadakis
Geradezu quecksilbrig startet zu Beginn ein in weiten, blassrosa-gerafften Hosen blütenförmig am Rücken liegendes Septett in Foniadakis‘ „Bonds“ durch. Die Bewegungssprache der gleich einem Schwarm quirliger Fische innerhalb eines Lichtquadrats hin- und herjagenden Gruppe ist atemberaubend virtuos und munter verspielt wie sich im Sonnenschein kräuselnde Wellen. Dennoch liegt dem Stück eine schier mathematisch präzise Struktur zu Grunde. In Wiederholungen werden die Interpreten immer wieder auf bestimmte skulpturale Formationen zurückführt: für Sekunden optische Ruhepole in einer unendlichkeitstauglich gebauten Choreografie voller überraschender Hebungen und Verwirbelungen. In kürzester Zeit gen Himmel gestaffelte Figuren zerschmelzen nach ihrer Vollendung nur einen Wimpernschlag später. So sieht Durchatmen in Foniadakis’ Welt aus physischer Rastlosigkeit aus.
Toller Kontrast inmitten eines furiosen und komplett ausverkauften Powerabends: „Automata“ von Douglas Lee
Darauf gibt Douglas Lee sein Debüt beim Staatstheater Augsburg Ballett unter Ricardo Fernandos Leitung mit Antonio Vivaldis barockem Mandolinenkonzert in C-Dur – passagenweise aufge- und unterbrochen durch elektronische Soundkollagen des Komponisten Nicolas Sávva. Die stets fein voneinander abgesetzten Positionen der Gruppentänzer*innen in Lees’ Werk „Automata“ erinnern nicht selten an Gestalten aus der Commedia dell’Arte.
Thematisch lässt Lee das Publikum in ein fast schon maschinell wirkendes Universum abtauchen – angesiedelt irgendwo im Wurzelgeflecht zwischen „Coppelia“ und „Petruschka“. Womöglich liegen dort die Anstöße zu seiner Produktion, die im Zeitalter von Augmented Reality und KI der Frage nachspüren will, was unser Sein als Menschen wirklich ausmacht. Lees im Programm „Automatenduo“ benanntes Hauptpaar wird innerhalb der ihnen vorgegeben bewegungssprachlichen Grenzen hingebungsvoll verkörpert von Terra Kell und Afonso Pereira. Allerdings wollen die beiden – anders als der Titel „Automata“ es suggeriert – gar nicht roboterhaft eckig über die Rampe kommen. Vielmehr scheinen sie experimentelle Objekte eines recht schablonenhaft agierenden Kollektivs von Konstrukteuren in olivgrünen Overalls zu sein. Immer mal wieder tritt einer aus dieser Gruppe solistisch in den Vordergrund. Linear aufgereiht verschwindet man ab und an in der rundum herrschenden Dunkelheit.
Zentraler Moment ist eine Vernebelung, aus der eine Frau und ein Mann in enganliegenden hautfarbigen Ganzkörpertrikots hervorgehen: menschliche Aufziehpuppen, die körperlich geführt von ihren Erschaffern bzw. Betreuern in ein Welterkunden starten – erst allein für sich, dann magnetisch à la Adam und Eva zueinander hingezogen. Gegen Ende ziehen sich die sieben „Spielleiter“ zurück. Alleingelassen harmoniert das Paar synchron, am Boden sitzend, mit ausgetreckten Beinen. Ein beschaulich-schönes Bild. Bis beiden offenbar die neueroberte Lebenskraft und Energie ausgeht und ihre Oberkörper langsam flach nach hinten sinken.
Famose Hommage an den Musiker Ezio Bosso: „Under The Trees’ Voices“ von Young Soon Hue
Zum Schluss fesselt Young Soon Hue das Publikum inhaltlich greifbar mit ihrer eindrücklichen, turboschnell dahinrauschenden Hommage an den 2020 nach schwerer Krankheit verstorbenen Kontrabassisten, Komponisten und Dirigenten Ezio Bosso. Aber ihr „Under The Trees’ Voices“ besticht nicht bloß durch technisch originelle Famosität, die das Augsburger Ensembles einmal mehr absolut beherrscht. Der Tänzer David Nigro darf – als einzig klar herausstechender Hauptrolleninterpret – in einem mitreißenden Plädoyer für die Bedeutung von Musik als Bosso das Wort ergreifen, das Publikum eindringlich direkt ansprechen und einen Dirigentenstab schwingen.
Mit Unterstützung der für den gesamten Abend verantwortlichen Kostümausstatterin Bregje van Balen besticht „Under The Trees’ Voices“ durch schlichte Farbigkeit, die für sich spricht, wenn ein Mann und eine Frau in Schwarz miteinander tanzen oder sich eine Frau in Rot zu einem Paar in Türkisblau gesellt. Trotzdem bleibt der Assoziation des Betrachters weitgehend überlassen, wer was oder wen darstellt in einem strukturell zweigeteilten Opus. Ist der erste Teil eher biografischen Momenten und Begegnungen gewidmet, so fokussiert sich die Choreografin im zweiten, fast sinfonisch angelegten Teil ganz auf Bossos Musik.
Plötzlich leuchten bloß noch die Socken und Hosen in den zuvor von den Interpreten eingeführten Farben. Die Körper wirbeln wie bildgewordener Rhythmus schier noch sprung- und drehfreudiger umher. Den Drive purer Dynamik akzentuiert zusätzlich kurz eine einzelne Tänzerin auf Spitzen. Im Hintergrund werden die Zweige eines projizierten Baums mit jedem Schritt, mit jeder Armbewegung dichter und dichter.
„Dimensions of Dance. Part 5“ überflutet das Publikum wie ein unbändig am Puls der Zeit dahinströmender Fluss – ohne dass man dabei Gefahr läuft, davongewirbelt zu werden oder gar zu ertrinken. Die mit und für die insgesamt 18 Ensemblemitglieder des Ballett Augsburg kreierten Stücke „Bonds“ des aus Kreta stammenden Andonis Foniadakis, „Automata“ des Engländers Douglas Lee und „Under The Trees’ Voices“ als sensationellem finalen Höhepunkt der Südkoreanerin Young Soon Hue korrespondieren insofern wunderbar miteinander.
Dass der fulminante Ballettabend im martini-Park – womöglich noch bis 2030 Ausweichspielstätte des Staatstheaters Augsburg – nun erstmals live von den Augsburger Philharmonikern (Leitung: Ivan Demidov) begleitet wird, zeichnet diesen überaus sehenswerten Mehrteiler zusätzlich aus. Ein Zufall obendrein: Alle drei Tanzschöpfer*innen haben sich musikalisch für Werke italienischer Musiker entschieden. Und so bestimmen – quasi als unsichtbarer Rahmen – die sich rhythmisch bzw. in ihrer akustischen Intensität mitunter virtuos zuspitzenden minimalistischen Klangkosmen von Ludovico Einaudi („Golden Butterflies. Day 5“, „Petricor“ & „Experience“) im ersten und Ezio Bossos titelgebende Symphonie Nr. 2 „Under The Trees’ Voices“ im letzten Teil des Abends den emotionalen Tenor und die dramatische Textur der Choreografien. Deren starke Bildhaftigkeit brennt sich – Stück für Stück – unweigerlich ins Gedächtnis ein.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments