Frida Kahlo, der Tod und die Bedeutung von Farben
„Frida“ von Ricardo Fernando am Staatstheater Augsburg
Das muss man den Augsburgern lassen: Sie wissen, wie man eine aufsehenerregende, ausgelassene Gala schmeißt, die alle beteiligten Künstler*innen zum Strahlen und die Zuschauer*innen zum Jubeln bringt! Pandemiebedingt hatten Spartenleiter Ricardo Fernando und seine Tanzkompanie volle drei Jahre auf diesen Publikumsrenner verzichten müssen. Pünktlich zu den Osterfeiertagen war es dann aber wiedersoweit. Endlich – und die Augsburger Staatstheater-Ausweichspielstätte im Martini-Park war an beiden Vorstellungsterminen komplett ausverkauft.
Als Aushängeschilder dienten – selbstverständlich – die vielen geladenen Ersten Solist*innen: aus dem –Augsburg früher schon – eng verbundenen Stuttgarter Ballett (Adhonay Soares da Silva), vom HamburgBallett (Silvia Azzoni & Alexandre Riabko), English National Ballett (Julia Conway & Daniel McCormick) und der Companhia Nacional de Ballado/Portugal (Filipa de Castro & Carlos Pinillos) – ergänzt um das ungewöhnliche Choreografen-Tänzer-Tandem aus der Schweiz Sasha Riva & Simone Repele. Letztere demonstrierten eindrücklich, dass es im Tanztheater keiner Worte bedarf, wenn man vom unaufhaltsamen Untergang zweier Seelen erzählen will, ihrem Versiegen an Kraft und Versuchen, sich gegenseitig am Leben zu erhalten. Außer in ihrer eigenen toll-düsteren Eigenkreation „Sinking“ zeigten die beiden ihr enormes Können noch im Duett „Eyes Open/Shut Your Eyes“, das Marco Goecke für sie geschaffen hat. Erst im Verlauf der Gala offenbarte sich, was diese – an sich nicht ungewöhnliche – Zusammenstellung mit jeweils zwei Auftritten von jedem Gast so besonders machte.
Beginnen wir mit dem stilistischen Aspekt. Adhonay Soares da Silva brachte mit „Ssss…“ von Edward Clug und „Firebreather“ der ehemaligen Stuttgarter Halbsolistin Katarzyna Kozielska zwei exquisite, freakig-moderne Arbeiten mit. Beide bauen zwar technisch auf dem klassischen Vokabular auf, lassen den Interpret*innen im Ausdruck aber viele individuelle Freiheiten. Dass insbesondere Tänzer*innen mit jahrelanger, abwechslungsreicher Bühnenerfahrung Stücken einen sehr eigenen Look verleihen können, führten Filipa de Castro & Carlos Pinillos aus Portugal sehr eindrucksvoll vor – zuerst dynamisch irgendwie zurückgenommen in „As We Are“ von Remi Wörtmeyer und anschließend in Ronald Savkovićs wesentlich schwungvoller durch den Raum gleitendem „Nada fica de nada“.
Fabelhafte Beispiele, wie sich die Kunst des Pas de deux über die Jahrhunderte hin entwickelt hat, boten außerdem die aus England und Hamburg angereisten Paare. Dabei hatten einzig und allein die Jüngsten rein klassische, für Galaprogramme typische Nummern mitgebracht. Bravourstücke des romantischen Repertoires von Marius Petipa und August Bournonville, die das Augsburger Publikum sonst nie zu sehen bekommt. Im kurzen roten Kleidchen und barfuß in ihren Spitzenschuhen bezauberte Julia Cronway mit der akademisch gebotenen göttlichen Steife und Strenge als Diana und Daniel McCormick als hingebungsvoll-besonnener Partner und sprunggewaltiger Aceton. Viel unglaublicher noch war, wie die beiden Shootingstars des im Londoner Coliseum beheimateten English National Ballett ihr Pas de deux aus Bournonvilles „Flower Festival in Genzano“ übers Parkett flirren ließen: in all den hier bewegungsästhetisch ganz anders gelagerten Herausforderungen absolut fabelhaft, souverän und exquisit, zart, verschämt und verliebt im niemals abreißenden Mienenspiel und schlicht furios in all den kleinteiligen Battements. So brachten sie den Saal schier zum Luftanhalten. Die Namen Julia Conway und Daniel McCormick sollte man sich unbedingt merken!
„Heute Abend sind wir der Mittelpunkt der Welt des Tanzes“, ließ Ballettchef Fernando in seiner Begrüßung am 9. April augenzwinkernd charmant und durchaus stolz verlauten. Anschließend trat er immer wiederhöchstselbst vor die Zuschauer*innen, um – stets kurz und knapp – die jeweils nächsten zwei Nummer eines mit insgesamt 18 Beträgen sehr reichen zweieinhalbstündigen Programms anzusagen. Diese Gala habe „Showcase“-Charakter, betonte Fernando, dem wichtig zu sein schien, nicht nur mittels eines internationalen Staraufgebots zu beeindrucken. Daher gab es neben mehrmaligen Einblicken in die Arbeit seiner eigenen Truppe für vergleichbare zeitgenössische Ensembles immer wieder die Chance sich zu präsentieren.
Dank dieser schönen Idee, die ruhig noch häufiger in anderen Städten der bekanntermaßen reichenbundesdeutschen Theaterlandschaft aufgegriffen werden könnte, stellte sich im ersten Teil das Ballett des Theaters Nordhausen vor. Dessen Chef Ivan Alboresi hatte seine eigene rasante Choreografie „Poeten“ im Gepäck – und fünf seiner superben Tänzern. Laut Programmheft handelt das Stück von jungen Künstlern auf der Suche nach sich selbst und kreativer Individualität. Metallische Beats erklingen aus dem Off. Runde Scheinwerferlichter erhellen den Boden. Nebel steigt auf. Aus den Schatten lösen sich durchtrainierte Körper in schwarzen Hosen. Was folgt ist maskuline Tanzpower pur. Aktionen am Boden, Sprünge, Pirouetten und dahingepfefferte Tours en l’air. Technisch alles wunderbar sauber und im Ausdruck stark. Erst imponiert und brilliert ein Tänzer allein. Später finden sich alle wie in einem mystischen Stammesritual zu einem Kreis Eingeschworener zusammen. Zu gerne hätte man diesen kraftvoll-ballettösen Kriegern mit ihren poetischen Anliegen länger zugesehen.
Das weibliche Element, das die Gäste aus Nordhausen komplett ausgespart hatten, lieferten nach der Pause die ihrerseits ganz ohne männliche Kollegen angereisten vier Tänzerinnen aus dem Ensemble Tanz des Pfalztheaters Kaiserslautern in „The Read Thead“ (Choreografie: Alba Castillo) nach. Statt Schwärze und emotionaler Intuition wird das Ambiente hier von Linien, Diagonalen und geometrisch-verspieltenKostümen in Weiß und Beige dominiert. Die Damen formieren sich zu zweit, zu dritt oder in einer Reihe hintereinander gestaffelt zu viert. Arme fassen nach Köpfen oder Füßen. Man umgreift sich – mal vorsichtiger, mal eher rabiat –, verbleibt dabei im Stand oder sackt tiefer ins Plié, sinkt nieder auf die Knie. Nur selten werden in diesem bewegungstechnisch kontrollierten Spiel die Verkettungen innerhalb der sich ständig neu in den leeren Raum hineinmodellierenden Clique gänzlich aufgelöst.
Die Augsburger selbst eröffneten den Abend mit Passagen ihrer jüngsten Uraufführung „A Fresh Start“ des in Madrid tätigen Choreografenduos Iratxe Ansa und Igor Bacovich. Eyecatcher dieser abstrakten Produktion sind zwei mobile Wandelemente, deren aus Dreiecken zusammengesetzte Oberfläche sich in Kanten und Spitzen nach innen bzw. außen wölbt. Raffiniert beleuchtet erstrahlen sie gleich einem Stimmungsbarometer in unterschiedlichen Regenbogenfarben, während die Tänzer*innen sich davor zu soft klickender Elektromusik von Carl Craig in weißen Korsagen bewegen. Man nimmt sie zwischendurch wie die bewegten Figuren eines antiken Frieses wahr. Alle Übergänge von Szene zu Szene verfließen. Das Auge folgt einer fluid-weichen, dabei scharf konturierten Körperlichkeit, bei der bestimmte Bewegungsmomente punktuell betont werden. Atmosphärisch entsteht so jene eindrucksvolle Wirkung, der solistische Herausforderungen Sinnhaftigkeit verleihen – innerhalb einer sich permanent wie ausgegossenes Quecksilber in Anzahl und Dynamik verändernden Gruppenstruktur.
Wesentlich ungezügelter geht es dagegen in Ricardo Ferandos eigener Kreation „Tangata“ zu, die ebenfalls dem Zweiteiler „Dimensions of Dance, Part 4“ entnommen war. Deren Schmiss und Drive bestimmt musikalisch Astor Piazzolla. In einem Frauensolo, Duetten und – ganz zum Schluss der Gala – einer feurigen Tutti-Sequenz mit Stühlen darf sich die gesamte Kompanie choreografisch in ihrem Furor gezähmt und dennoch mit leidenschaftlicher Wildheit zeigen. Als Rausschmeißer durchsetzt von Augenblicken vollersentimentaler Melancholie ist das perfekt.
Dass die Kompanie mit Choreografen-Nachwuchs aus den einen Reihen aufwarten kann, stellt Fernando dazwischen unter Beweis. Den Italiener Giovanni Napoli, der seit 2019 in Augsburg tanzt, schickt er mit dessen „Embracing“ ins Rennen. Das Solo – beeindruckend interpretiert von Cosmo Sancillo, der zuletzt als forscher Puck in „The Fairy Queen“ bejubelt wurde – entstand 2016 für den Internationalen Choreografiewettbewerb Hannover und kann an der Seite von Marco Goeckes ebenfalls von den Augsburgern gezeigtem „Le Spectre de la Rose“ (Ana Casquilho & Cosmo Sancillo) durchaus bestehen.
Nikolaos Doede, Augsburgs anderer Nachwuchschoreograf, wurde 2022 für seine Vielseitigkeit mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet. Und das ganz zu Recht. Nun aber wollte es mit dem Einspieler (Musik: Radiohead) zu seinem kampfsporthaft aufgeladenen Zwei-Frauen-Stück „Draining“ einfach nicht klappen. Als Gabriela Finardi und Terra Kell mit viel Temperament und einem Blazer, auf dem herumgetrampelt wird, zum zweiten Mal vergeblich loslegten, eilte Fernando aus der Seitenkulisse für eine spontane Walzereinlage beherzt hinzu. Nach einigen Worten von der Bühne aus an die Technik ging es weiter – und dann funktionierte alles wie am Schnürchen.
Highlight für Highlight wurden die Protagonist*innen heftig für ihre Leistungen bejubelt. Vieles davon wird man zweifelsohne lange im Gedächtnis behalten. Dazu zählt nicht zuletzt die einmalige, in ihrer gegenseitigen Partnerschaft stets unübertreffliche Harmonie der beiden Neumeier-Tänzer*innen Silvia Azzoni & Alexandre Riabko. Mit „Claire de Lune“ (Musik: Claude Debussy/Philip Glass) – einer wunderschönen, ihnen raffiniert auf den Leib geschneiderten Kreation der früher im Hamburg Ballett engagierten, nun freiberuflich tätigen Nachwuchschoreografin Kristina Paulin – und „Narciso“ von Thiago Bordin (Musik: Maurice Ravel) sorgten sie mittels starker innerer Spannungsbögen für Augenblicke höchster tänzerischer Poesie. Technisch über jede Schwierigkeit erhaben. Zeit- und alterlos. Das ist Pas de deux in höchster Vollendung.
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