Frida Kahlo, der Tod und die Bedeutung von Farben
„Frida“ von Ricardo Fernando am Staatstheater Augsburg
Keine Gala gleicht der anderen. Und doch ähnelt sich das Prinzip der virtuosen Zusammenstellung möglichst einprägsamer Nummern zunehmend: Tänzer*innen verschiedener Kompanien sowie effektvolle Schaustücke werden angefragt, um ein – möglichst aus der Reihe fallendes – Tanzevent auf die Beine zu stellen. Häufiges Ziel: das hauseigene Repertoire aufzumischen oder glanzvoll zu ergänzen. Wer hier was – und natürlich in welcher Brillanz – präsentiert, bestimmt maßgeblich den Erfolg der Gala und trägt zum Vergnügen der Zuschauer erheblich bei.
Mit Gala-Karten (ohne vorherige Programmankündigung) kauft man aber erst mal die Katze im Sack, in Vorfreude auf bewegende Überraschungen. Im besten Fall sind dann sogar tolle Entdeckungen dabei. Das mögen Interpreten, Werke oder eine Kombination von allem sein. Im Reigen der Internationalen Ballett- und Tanzgala in Augsburg, die dieses Jahr – früher als gewöhnlich – bereits am 10. und 11. Februar in der Ausweichspielstätte des Staatstheaters im martini-Park stattfand, muss an dieser Stelle unbedingt das „Fantasie-Impromptu“ des Choreografen Sergej Vanaev zu Musik von Chopin hervorgehoben werden. Hinzu kommt, dass diese Trouvaille von zwei fulminanten Ausdruckstalenten auf die Bühne gewuchtet wurde.
Ting-Yu Tsai & Stefano Neri heißen die beiden Spaßvögel vom Ballett Plauen-Zwickau, wohin man aus Süddeutschland fast nie reist. In Vanaevs gut strukturierter und ungewöhnlich freakiger Beziehungsminiatur überzeugten sie rundum. Oder sollte man das Ganze besser als Liebeshickhack charakterisieren angesichts der vielen kleinen, sich gegenseitig zugefügten Frechheiten bzw. dem plötzlichen Aufschrei junger Verliebter mittendrin und den lustlosen Trotzreaktionen von erst der Frau, dann dem Mann? So spontan wie einfach dahinskizziert, glich diese gar nicht so simple Choreografie mitsamt akrobatischen Elementen inhaltlich einem Clash der Gefühle und war vollgepumpt mit launischen Allüren. Etwas derart herrlich Schrulliges holt nach der Pause die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen sofort für das Happening auf der Bühne zurück.
Der virtuose und unglaublich witzige Hingucker dieser Gala-Ausgabe – im stilistischen Dazwischen von Klassik und Moderne – war zuvor „ABC“ des gebürtigen Kanadiers Eric Gauthier. Es handelt sich um ein getanztes Feuerwerk, in der Machart vergleichbar Gauthiers „Ballet 101“ und „Ballet 102“. Vergangene Spielzeit konnte man „ABC“ vielerorts als festen Bestandteil innerhalb des tourenden Jubiläumsprogramms „15 years alive“ von Gauthier Dance erleben. Shori Yamamoto ist jedes Mal eine Sensation als Solist der in alphabethischer Reihenfolge das klassische Ballett von der Arabesque über den Bad Boy bis hin zu Tschaikowsky durchdeklinierenden Nummer – technisch so perfekt wie wunderbar schelmisch-scherzhaft. 2022 wurde Yamamoto zu Recht im Jahrbuch tanz für diese Paraderolle als Tänzer des Jahres nominiert. 2020 war er zu Gauthier Dance gewechselt. Davor hatte er seit Ricardo Fernandos Amtsantritt als Ballettchef 2017 aber dem Augsburger Ensemble angehört. Dem Applaus des hiesigen Stammpublikums war die Wiedersehensfreude nach der Rückkehr des „verlorenen Sohnes“ – einem Temperamentsbündel sondergleichen – deutlich anzuhören.
Mühelos riss Yamamoto in Gauthiers cleverem Zusammenschnitt in Sekundenbruchteilen markante Momente der Männer-Variationen aus Klassikern wie „Schwanensee“, Giselle“, „Le Corsaire“ und „Don Quichote“ an. Eine schöne – womöglich ganz zufällige Koinzidenz –, weil dem Publikum im weiteren Verlauf tatsächlich je ein Pas de deux aus jeder dieser vier romantischen Ballettikonen geboten wurde. Die grazile Luiza Lopes aus Brasilien und ihr smarter japanischer Partner Kentaro Mitsumori vom Royal Swedish Ballet zeigten Siegfrieds Liebesadagio mit dem weißen Schwan – allerdings ohne Solovariationen, auf die im ersten Galateil auch andere Paare verzichteten. Anders als im zweiten Teil, für den die Gäste aus dem – worauf in Ricardo Fernandos Moderation explizit hingewiesen wurde – derzeit „wirklich kalten“ Schweden einen apart-feurigen „Don Quichote“ mit allem „Drum und Dran“ vorbereitet hatten.
Den Pas de deux aus „Le Corsaire“ hatten Julia Conway & Daniel McCormick vom English National Ballett im Gepäck. Das Paar war bereits im Vorjahr mit zwei Bravourstücken von Petipa und Bournonville überaus eindrucksvoll in Erscheinung getreten. Nun reisten sie als Wunschkandidaten des Ballettchefs und der Zuschauer erneut an und stellten ihr klassisch lupenreines Können einmal mehr unter Beweis. Dass Julia Conway kaum geschminkt von Rolle zu Rolle stets anders strahlt, macht sie zu einer ungewöhnlichen Interpretin. Ihre leicht variierten Neigungen des Kopfs verknüpft mit einer makellosen Linienführung besonders offener Epaulements – von der Schulter bis in die Fingerspitzen – sind einfach zauberhaft. Haltung und die Kontrolle über eine Position mutieren bei ihr zum subtilen, emotional schillernden Ausdrucksmittel. Mit dabei hatten die Engländer einen „Raymonda“-Pas de deux ihrer ehemaligen Direktorin Tamara Rojo, die mittlerweile seit 2022 als erste Frau das San Francisco Ballet leitet.
Mit István Simon als internationalem Gastkünstler aus Dresden betrat ein noch immer sehr eleganter, rollendeckend bedrückt wirkender Albrecht die Bühne – an seiner Seite Kako Kijima als vergebende und sich in die Welt der Wilis verabschiedende Giselle. Ballettchef Fernando verriet in seiner Anmoderation, dass er die Tänzerin bei einem Workshop in Tokio kennengelernt und als neues Ensemblemitglied gewonnen hatte. Angekommen ist Kako Kijima hier offenbar längst. Sie fällt auf in Fernandos eigens für den Schluss der Gala kreiertem „The Final Waltz“ und Gastchoreograf Andonis Foniadakis hat sie schon in „Bonds“ besetzt – seiner Uraufführung für den nächsten Premierenabend am 23. März, den die Truppe gerade einstudiert.
Bei einem kurzen „Bonds“-Ausschnitt ganz am Anfang der Gala mäandert eine Gruppe von drei Tänzerinnen und vier Tänzern in rosa- und hellblau-pastellenen Kostümen über die Bühne. Action, Dynamik, Freude an Moves, sporadisch sind Ansätze individueller Stärke zu sehen. Man formiert sich dicht an dicht und lässt die Oberkörper kreisen. Das wirkt einen Augenblick, als blicke man auf lauter Personen hinter Lenkrädern. Später fliegen Hände ans Herz und über den Kopf. Arme schaufeln herum – vielleicht soll dadurch Tragisches weggeschoben werden – und im Raum breiten sich Emotionen aus. Gefühligkeit, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint. In der Erinnerung bleibt das physische Flirren eines furiosen Auftakts, der in dem Moment abbricht, in dem sich unerwartet abrupt Paare umarmen.
Gerne hätte man auch Melissa Chaspki aus Medfield/Massachusetts und dem Belgrader Sava Milojević länger zugesehen. Beides prima Tänzer*innen! Aber „Embers“ von Ernst Meisner zu Musik von Max Richter war schlicht zu schnell vorbei, um sich auch nur halbwegs am Gespür für zwei Körper im Raum und der einfühlsamen Delikatesse, mit der Chaspki und Milojević in dem abstrakten Duett agieren, satt zu sehen. Dass beide Ende Dezember 2023 das Bayerische Staatsballett verlassen haben, bleibt die im Nachhinein zu bedauernde Neuigkeit dieser Gala.
Jakob Feyferlik wiederum, der in Wien ausgebildet wurde und beim dortigen Staatsballett seit 2013 eine steile Karriere hingelegt hatte, bevor er als Erster Solotänzer zum Niederländischen Nationalballett wechselte, erobert sich aktuell in München Hauptrolle um Hauptrolle. Hans van Manens „Trois Gnossiennes“ – Melissa Chaspki debütierte darin 2016 in ihrer Zeit beim Dutch National Ballet in Amsterdam – tanzten die Amerikanerin und der Österreicher als sich im Geschlechterkampf ebenbürtige Partner nun zum ersten Mal gemeinsam. Sie federleicht vertikal steif von seinen starken Armen hochgehoben und verschoben. So hat jede Gala ihre Eigenheiten.
Insgesamt sind organisatorischer Aufwand und Kosten für solche Gala-Projekte nicht zu unterschätzen. Dort, wo sie stattfinden, schmücken sie den üblichen Spielplan von Premieren und Wiederaufnahmen zusätzlich aus. Dass dies keinesfalls selbstverständlich ist und oftmals nur dank ballettaffiner Förderkreise gelingen kann, muss nicht extra betont werden. Vor dem Hintergrund zunehmender Finanzknappheit an den Theatern will nun auch Ricardo Fernando einen Unterstützer-Circle für sein Augsburger Ensemble ins Lebens rufen. Exklusives Zuckerl für alle, die seinem „Ballet Circle“ beitreten: Neben Einblicken hinter die Kulissen, kostenlosen Programmheften, Begegnungen und Probenbesuchen wird man künftig auch zu den Internationalen Ballettgalas auf besten Plätzen mit anschließendem Empfang eingeladen.
Unkalkulierbares Live-Risiko bleibt, dass im Vorfeld oder Verlauf einer Gala auch größere wie kleinere „Unglücke“ passieren können. In einer seiner Anmoderationen am ersten Gala-Abend wusste Fernando gleich eine kleine Serie davon gut abzufangen. So verhedderten sich ausgerechnet die famosen Gäste aus England bei ihrem ersten Auftritt. Die entscheidende Hebung ihres „Raymonda“-Pas de deux in Tamara Rojos Choreografie missglückte spektakulär. Shit happens! Tänzer*innen sind zum Glück Menschen und keine Roboter! Und weil einer ihrer Begleiter erkrankt war, konnte Haruka Sassa vom Staatsballett Berlin nur die Solopassage des „Dornröschen“-Pas de deux (Choreografie: Marcia Haydee) zeigen. Diese gar fein und hübsch dahingetupften Spitzentanz-Minuten konterkarierten im ersten Teil Christian Spucks sehenswertes Duett „Nocturnes“ (Musik: Chopin). Flankiert von Cohen Aitchison-Dugas war Haruka Sassa auch hier en pointe unterwegs, nur eben ganz anders souverän im typisch-zeitgenössischen Duktus des neuen Berliner Ballettintendanten.
Quasi als ungehobelt-wilderes Gegenstück zu Spucks choreografisch wie musikalisch subtil austariertem Duett brachte Ricardo Fernando eine 2020 in New York ausgezeichnete Choreografie eines weiteren neuen festen Ensemblemitglieds unter: „Desierto" von und mit Alfonso López González und Paula Fernández Naves. Gut, dass in derartig bunt zusammengewürfelten Programmen dem eigenen Ensemble und dessen Qualitäten Raum eingeräumt wird, ja werden muss. Da durfte natürlich der Verweis auf den Abendfüller „Charlie“ nicht fehlen – wobei man sich diesmal mit Afonso Pereira in der Titelrolle auf ein Solo (mit Stuhl) beschränkte.
Zugunsten von Einblicken in Werke, die die hauseigenen Tänzer*innen selbst nicht im Repertoire haben, wurden Gruppenarbeiten im diesjährigen Gala-Programm eher ausgespart. Ein durchaus legitimer Schwerpunkt, denn Ricardo Fernando leitet am Staatstheater Augsburg ja selber eine modern ausgerichtete Kompanie. Roland Petits „Carmen“ oder Arthur Saint-Léons „Coppelia“ sucht man dort im Spielplan vergeblich. Also nahm man Kontakt zum Ballett am Rhein auf. Und Noch-Chef Demis Volpi entsandte für den erotisch knalligen und einen anschließend weich fließenden Pas de deux seinen versierten Solisten Gustavo Carvalho sowie die Premierenbesetzung seiner eigenen „Giselle“-Produktion Futaba Ishizaki. Klasse Idee, auch wenn Ishizaki – sonst im klassischen Fach ganz zu Hause – bei der ursprünglich für Zizi Jeanmaire kreierten Carmen-Rolle noch Luft nach oben ließ, was verführerische Freizügigkeit anging. Aber keine Gala gleicht eben der anderen!
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