„Vielseitig und außergewöhnlich“
Tanzdirektor Guido Markowitz erhält Kulturpreis der Stadt Villach
Wie kein zweites Werk der Ballettgeschichte steht „Le Sacre du printemps“ („Das Frühlingsopfer“) für die Revolutionierung der Tanzkunst im 20.Jahrhundert. Die Uraufführung der Ballets Russes am 29. Mai 1913 in Paris mündete im Tumult. Marcel Duchamp konnte das „Schreien und Kreischen dieses Abends“ sein Leben lang nicht vergessen und Claude Debussy prägte das Bonmot vom „Massacre du printemps". Ob Nijinskys Choreografie, Strawinskys Musik oder Diaghilevs Management für den eskalierenden Theaterskandal verantwortlich waren, darüber streiten sich die Gelehrten noch immer. Jedenfalls hatte der russische Impresario die Pressevertreter bereits zur Generalprobe eingeladen – ein raffinierter Schachzug, da das Publikum in den Vorberichten gewarnt worden war.
Nach insgesamt fünf Aufführungen in Paris und zwei weiteren in London wurde das Stück kurzerhand abgesetzt. Doch die Druckwelle dieses furiosen Gesamtkunstwerks ist während der vergangenen 102 Jahre nie abgeebbt. Wigman, Béjard, Bausch – kaum ein Choreograf von Rang, der sich nicht am „Sacre“ versucht hat. Heute gilt „Das Frühlingsopfer“ als Schlüsselwerk, sowohl der Musik- als auch der Tanzgeschichte. Dabei fasziniert die Bandbreite der Auseinandersetzung mit dem choreografischen Stirb und Werde. Sie erstreckt sich von Rekonstruktionen durch Millicent Hodson und Kenneth Archer, die in der Übertragung ans Ensemble von Sasha Waltz anlässlich des 100. Jubiläums in Berlin einen vorläufigen Höhepunkt erreichte und reicht bis zu Yvonne Rainer's performativer Revision „RoS Indexical“ (2007), die auf der Documenta 12 vorgestellt wurde. Durch den Film „Rhythm is it!“ schwappte die Popularisierungswelle der Komposition schließlich in den Mainstream.
Das ursprüngliche Szenario handelt von einem Menschenopfer, das bei Frühlingsbeginn dem Sonnengott Jarilo dargebracht wird. Von archaisch russischen Mythen inspiriert, tanzt sich die Auserwählte unter dem Druck der Gemeinschaft in Ekstase, schließlich in den Tod, aus dem neues Leben erwächst. Das Fruchtbarkeitsritual des „Sacre“ schildert sein Librettist, Bühnenbildner und Ausstatter Nicolas Roehrich 1913 so: „Meine Vorstellung ist, dass uns die erste Szene an den Fluss eines Heiligen Hügels versetzt, wo slawische Stämme versammelt sind, um die Frühlingsweihen zu begehen“. Auch Sutherlands „Sacre“ beginnt am Wasser.
Zum zarten Zirpen der Zikaden treten zehn Tänzer aus dem Dunkel an ein Wasserbecken. Es nimmt an Stelle des Orchestergrabens die gesamte Bühnenbreite ein. Die fast nackten Darsteller sind als Liegende, Hockende, Sitzende Bildelemente eines monochromen Tableaus vivant. Magisch sind Bühnenpräsenz, Licht und Sound, der vom fernen Klang der Insekten über metallisches Pochen (Bang On A Can) in melodiöse Melancholie (Arvo Pärt) übergeht und schließlich in Strawinskys „Sacre“ seine rauschhafte Vollendung findet.
Beflügelt vom Zusammenhalt eines Ensembles, das seit zwölf Jahren vom Publikum in Pforzheim geschätzt wird und nun seine letzte Premiere im großen Haus feiert, geben Davide Degano, Tu Ngoc Hoang, Camilla Marcati, Maximo Marinelli, Nozomi Matsuoka, Mana Miyagawa, Toshitaka Nakamura, Ermanno Sbezzo, Carlotta Squeri und Risa Yamamoto alles. Amphibien gleich lauern Tänzerinnen und Tänzer im Wasser. In sich gekehrte Soli, virtuose Duette, fantastisch ins Licht gesetzt (Andreas Schmidt). Synchron von einem Paar im Wasser, vom anderen auf der Diagonale an Land getanzt, wird im Vergleich der Elemente ein Paradigmenwechsel sichtbar: dominieren Festigkeit und Form auf dem Trockenen, ist der Tanz im Nassen ein von Impulsivität und Kraft geprägter (Auf-)Lösungsprozess. Wasser ist nicht nur Durststiller, Lebenselixier, Regenbruch und Sintflut, nüchtern betrachtet sind wir selbst (80 Prozent) Wasser.
Eis, Wasser und Wolken – das Medium der Wandelbarkeit zeigt sich in unterschiedlichen Aggregatzuständen und taucht als beeindruckendes Panorama per Videoprojektion (Tai Zheng) auf. Neben einem enormen Formen-Fundus zeichnet diese Tänzer ihre Wandelbarkeit und kreatürliche Geschmeidigkeit aus; eine Qualität, die besonders augenfällig wird in einer Sequenz mit Klappstühlen, das Sitzmöbel als Spielelement und prototypisches Zeichen der Zivilisation.
Aus dunklem Verstummen führt Sutherlands „Sacre“ in lichte Stille. Weder im Bann einer magisch-mythischen Epoche, noch auf den Spuren der Rezeptionsgeschichte wandeln der Choreograf und sein Ensemble. Sie reflektieren das Ritual von einem aufgeklärt kritischen Standpunkt aus indem sie die Beziehung von Mensch und Natur in einen aktuellen Kontext rücken. In der Folge des Machbarkeitswahns fordern Naturkatastrophen ihre Opfer – in seinem „Sacre“ werden, in Umkehrung zum Original, alle dahingerafft. Nur das jungfräuliche Mädchen überlebt. Das Opfer als Heilige. Wenn Nozomi Matsuoka in die Ferne geht, meint man die kalte, atomverseuchte Ödnis Fukushimas zu fühlen. Der Schlussvorhang fällt. Ein Sturm der Begeisterung. Der Tsunami im Blut will nicht verebben.
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