Auf dem Narrenschiff
Ein Fotoblog von Dieter Hartwig über Toula Limnaios' „la nef des fols“
„Im Zeitalter einer erschöpften Gesellschaft sind wir Driftende, surfen durch die Welle des Lebens, in Tempowahn und Zeitnot. Die französische Redensart „minute papillon“ als „halte einen Moment inne“ übersetzt, drückt den Wunsch nach Leichtigkeit, unsere Suche nach Glück und die Kurzlebigkeit unseres Zyklus als Mensch aus“ – die poetische Ankündigung des neuen Tanzstücks zentriert auf die die Zeit, die uns bleibt und wie wir sie nutzen.
Ralf R. Ollertz Tonspur, grundiert von dumpfen Trommeln, zerfasert von an- und abschwellendem Knistern, unterbrochen durch kontrastierende Musikzitate, die Klänge aus einer fernen Welt in die Körper der Protagonisten tragen, umhüllt Performer wie Zuschauer. In schwarzer Monteurkluft schaufelt Hironori Sugata fünfundsiebzig Minuten in wohl überlegten Arbeitsabläufen Torferde von einer Grasfläche, füllt diese in einen Eimer, den er viele Male auf (s)einen hohen Gerüstturm bugsiert. Als Chronos, ohne Bart, Sichel und Stundenglas, wird er zur magisch-spiegelnden Konstante in diesem Kreislauf des Lebens und Überlebens von drei Tänzerinnen und zwei Tänzern. Seine Präsenz lenkt Augen und Ohren der Zuschauenden auf die permanenten Gegensätze im Puzzle der Glückssuchenden.
Ein Paar (Katja Scholz, Leonardo D’Aquino) müht sich ab den kleinen Glückskreislauf zu erhalten, sorgend trägt sie den Mann viele Male, innig umschlungen tanzen sie ihren langsamen Walzer, doch die Beschränkung auf das ewig Gleiche und die einseitige Dominanz der Frau zwischen Kind und Dompteuse lässt die behauptete Zweisamkeit als brüchig und latent gefährdet erscheinen. Das Paar zerbröselt vor unseren Augen. Wir blicken auf Träume und Albträume beim Wachsen oder Verkümmern am Anderen. Interpolierte Textfetzen oder das plötzliche Sich-in-Rage-Reden der Protagonisten über ostinaten Tönen sind Ausdruck der Angst vor der eigenen Endlichkeit. Inhee Yu peitscht den eigenen Körper, hängt sich an einen Mann, wird getragen und fallen gelassen, liegt in betörend schöner Totenruhe im Torf, tanzt im Angesicht eines Teddys das Erschrecken vor dem eigenen Gesichtsverlust, tanzt hingebungsvoll doch fragmentiert im Stroboskop-Lichtblitz zu Bachs Benedictus.
Fünf Menschen trippeln wie Holzfiguren um die Turmuhr. Zombies, torfverschmiert. Karolina Wyrwal in hohen Silberpumps, festgenagelt im Sand; Chronos schaufelt. In das Klopfen und Knistern mischt sich Klaviermusik von Robert Schumann. Daniel Afonso legt seinen Kopf auf ihre Schulter und im nicht enden wollenden ewigen Kuss drehen, kreisen, fliegen beide dahin. Beseelt wird sich der Mann unter den Turm in den Flugsand stellen, Lebensenergie tanken; Chronos schaufelt. Später scheint er liebevoll ihr verschmiertes Gesicht zu säubern, doch es sind Augen und Mund der Frau, die er verklebt, um sie zum Objekt abzurichten.
Vom Turmplateau schaut Chronos auf Sanftheit, Manipulation, Aufrichtigkeit, Zerstörung und Selbstzerstörung. Zerrissene Menschen im Fluss der Zeit. Gezeichnete. Nur ihre Schatten bleiben an der Wand sichtbar. Chronos steigt herab, nimmt die gesichtslose Kreatur in seinen Arm und singt.
Die Uraufführung ist Teamarbeit im besten Sinne. Toula Limnaios’ choreografische und inszenatorische Fantasie mit ihren und für ihre Protagonisten scheint unerschöpflich! Ihre tänzerischen polyphonen Perspektivwechsel zaubern in „minute papillon“ kongenial interpretierte, ineinander fließende Bewegungsbilder von bezwingender theatraler Kraft. Momente des Innehaltens, der ambivalenten Kontemplation: leise, verstörend, beunruhigend. Das intensive Spiel der sechs Protagonisten macht „minute papillon“ zu einem bewegenden Berliner Tanztheater-Erlebnis.
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