Der Blick zurück ist ein zeitgenössischer
Erstmals an einem Abend: Choreografien von Marianne Vogelsang und Dore Hoyer
Annäherung an Marianne Vogelsangs „Fünf Präludien“ von J.S. Bach
Manchmal bestehen Leben und Kunst aus einer Reihe verketteter Zufälle. So auch im Fall der „Fünf Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier von J.S. Bach“. Marianne Vogelsang, heute zu Unrecht fast vergessene Pionierin des Ausdruckstanzes, hat sie kurz vorm Tod 1973 ihrem Schüler Manfred Schnelle einstudiert und damit so etwas wie ein tänzerisches Testament hinterlassen. Schnelle, der „Kirchentänzer“ in der DDR, bewahrte tanzend diesen Zyklus und übertrug ihn dann im Lauf der Jahrzehnte mehreren Interpretinnen, unter ihnen Arila Siegert in Ost und Michaela Isabel Fünfhausen in West. Wieder einmal hat der Tanz verbindend gewirkt. Dass sich die Tradition der Übertragung von Tradition fortspinnen konnte, verdankt sich nun einem weiteren Zufall. Ralf Stabel, durch zahlreiche Publikationen ausgewiesener Tanzhistoriker, arbeitet gerade an einem Buch über jene Marianne Vogelsang, die, 1912 in Dresden geboren und bei Palucca ausgebildet, nach dem Krieg in Berlin eine eigene Schule gegründet hatte. Aus ihr ging durch Fusion mit der damaligen Fachschule für Tanz die Staatliche Ballettschule Berlin hervor, deren gegenwärtiger Leiter Stabel ist. Vogelsang unterrichtete nur kurzzeitig an dieser Schule. In Vorbereitung seiner Vogelsang-Biografie regte Ralf Stabel an, jenen Meisterzyklus durch Schnelle ein weiteres Mal übertragen zu lassen – diesmal einem Absolventen seiner Schule. Ein so mutiges wie vorwärts stürmendes Unterfangen: ein ausgebildeter Klassiker von heute auf dem Pfad des Ausdruckstanzes von gestern.
Als nächster Glückszufall kam der Tanzfonds ERBE ins Spiel. Er nahm die Vogelsang-Präludien dankenswerterweise in die Liste der förderwürdigen Projekte auf – die Arbeit konnte beginnen. Dass Manfred Schnelle im Januar, kurz vor Einstudierungsende, verstarb, schien auch dem Projekt den Todesstoß zu versetzen. Wieder ein Glücksfall: Michaela Isabel Fünfhausen konnte für die Feinarbeit an dem Zyklus gewonnen werden. Was im Herbst im Dresdner Societaetstheater während des Bachfestes der Stadt seine Premiere haben wird, Marianne Vogelsangs „Fünf Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier von J.S. Bach“, das erlebte jetzt im Theatersaal der Staatlichen Ballettschule Berlin, in deren Studios auch ein Großteil der Proben stattgefunden hatte, seine Voraufführung: vor Studenten, Pädagogen und den Mitgliedern des Förderkreises der Schule, der finanzielle Hilfe gewährt hatte.
Im schwarzen Raum bei zunächst mattem Licht treten zwei Menschen in Dialog, noch ganz im Hintergrund Nils Freyer in Weiß für den Tanz, Pianistin Ulrike Buschendorf vorn links für die Musik: zwei Künste im gemeinsamen Konzert. In es-, c-, b-, h- und g-moll stehen die Präludien, wie sie in dieser Reihenfolge Marianne Vogelsang gefügt hat, um in tänzerische Zwiesprache mit Raum, Klang und letztlich sich selbst zu treten. Ein Solo voller Nachdenklichkeit, Demut, auch Angst, voller Zögern und Wagen. Im Schreitcharakter des Anfangspräludiums umgreift die Gestalt den Raum, streichen Arme durch die Luft, falten sich Hände zum Gebet, senkt sich das Knie fast flehend dem Boden zu. Im Zentrum des schnellen zweiten Präludiums steht Kreisen mit Frontveränderung, sich verengend in Schneckenform, ein Wirbel im Erschrecken vor der eigenen Courage. Den flinken Läufen des Klaviers begegnet der Tanz mit Ruhe: langsamen Attitüdentouren und Dehnung in den Raum hinein. Eckig gestaltet sich das mittlere Präludium, mit nervösen rechtwinkligen Wendungen, dem Gegensatzpaar eng – weit, Linien durch den Raum, Kreuzformen, jeweils in wunderbar organischer Korrespondenz mit den Akzenten der Musik. Scheint dieser Teil hingegeben auf dem Knie zu enden, erhebt sich der Tänzer unversehens und liefert sich stehend seinem Raum-Kosmos aus – und der fortführenden Suche nach sich.
Kreisen ohne Frontveränderung en face, bald mit Wechsel des Vorn, füllt im vierten Präludium den sich erhellenden Raum, in den sich die Gestalt vorsichtig wagt, um sich wieder zurückzuziehen und dann den Mut für ein Weiter zu finden. Im tiefen Ausfall mit überkreuzten Armen findet die verinnerlichte Suche ihren Schlusspunkt. Das letzte Präludium überrascht zu versonnenem Klang mit Temps levés und Blindschiki en manège: Der Mensch riskiert etwas, um demütig zu stürzen und sich wieder aufzurichten. In Pose Attitüde mit diagonal gestreckten Händen endet dieser Teil als beinah stolzer, sogar ein wenig trotziger Appell, sich in der Welt seinen Platz zu erobern. Damit jedoch endet nicht auch Vogelsangs Zyklus. Denn er lässt in Schnelles verfügter Redaktion die Präludien nochmals tanzen, doch in rückwärtiger Folge. Einzig Teil 5 als Spitze einer gedachten Pyramide wird nur einmal gezeigt. Mit Erreichen der fixen Ausgangsposition des ersten Präludiums schließt sich auf gedanklich und formal zwingende Weise ein Kreis, ein Lebenskreis, wenn man so will. Alles Tun kehrt wieder an einen Ursprung zurück, könnte die Botschaft lauten.
Choreografisch stehen die „Präludien“ als Summe eines intensiven, an Fehl- und Rückschlägen reichen Lebens, das dennoch ohne Hader, in Harmonie und innerem Frieden ausklingt. Ein Signaturwerk späten Ausdruckstanzes, das es zu bewahren gilt. Zusammen mit Ulrike Buschendorfs musterhaft feinfühligem, ganz partnerschaftlichem Spiel hat sich Nils Freyer, ein junger Tänzer mit feingliedriger Gestalt, eine Kreation von 1973 anverwandelt, ohne lediglich zu kopieren: weil die Suche nach sich selbst an keine Zeit, kein Alter, kein Geschlecht gebunden ist. Kein Veranstalter mit geeignetem Aufführungsort, ob Theater oder künstlerisch nutzbare Kirche, sollte sich nach der Premiere dieses die Seele reinigende und erhebende Erlebnis entgehen lassen.
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