Die „Bäche“ in Dresden

Nils Freyer tanzt „Fünf Präludien“ von Marianne Vogelsang im Societaetstheater

Der junge Berliner Tänzer erweckt die Tänze aus dem Jahr 1973 wieder. Abgerundet wird dieser bewegende Abend, der vom Publikum viel Beifall erhält, von Ralf Stabel, und Passagen aus seinem in Arbeit befindlichen Buchmanuskript über Vogelsang.

Dresden, 04/10/2016
Choreografische Rekonstruktionen sind stets etwas Außergewöhnliches, gilt doch der Tanz als wohl vergänglichste aller Künste. Zwar lässt er sich mit speziellen Notationen dokumentieren und es gibt auch längst visuelle Aufzeichnungsmöglichkeiten, aber letztlich bleibt er doch unlösbar mit Individualität, Körper, Empfindung, Raum, Zeit, Wahrnehmung verbunden. Und so verlangt jede Rekonstruktion ein sehr persönliches Herangehen. Das gilt auch für die „Fünf Präludien“ aus „Das Wohltemperierte Klavier“ von Johann Sebastian Bach, Arbeiten von Marianne Vogelsang, die sie 1973 kurz vor ihrem Tode auf ihren in Dresden wirkenden Schüler Manfred Schnelle (1935 - 2016) übertragen hat, mit dem sie eine fast schon symbiotische Freundschaft verband.

Ein Vermächtnis, das diesem sehr am Herzen lag. Und wenn Manfred Schnelle später seinerseits die Arbeiten weitergab, besonders an Arila Siegert, Friederike Rademann, Michaela Isabel Fünfhausen, Sonja Zimmermann und Elisabeth Fischer, dann immer mit der Hoffnung, die besondere Qualität der Tanzwerke werde sich einprägen, bei den Tänzern ebenso wie beim Publikum. Nun sind die „Fünf Präludien“, die verschiedentlich immer wieder auch in Dresden zu sehen waren, quasi wiedererweckt worden von dem jungen Berliner Tänzer Nils Freyer. Manfred Schnelle hatte sie im Alter von immerhin 80 Jahren mit ihm sorgsam erarbeitet. Doch die geplanten Aufführungen konnte er nicht mehr erleben; er verstarb am 22. Februar dieses Jahres.
Über diese bewegende Zeit spricht auch Boris Gruhl, der nun die Abende als kenntnisreicher Moderator begleitet, und er erzählt den Gästen, es sei der Wunsch von Manfred Schnelle gewesen, die Bach-Präludien im Societaetstheater aufzuführen. Ein historischer Theaterbau, der dem Begriff Kammertanzabend, wie er einst im ModernenTanz üblich war, eine spezielle Note verleiht. Obwohl diese Arbeiten ja durchaus mehr Raum vertragen könnten. Doch die etwas „beengte“ Variante mit dem Klavier und der sensibel musizierenden Berliner Pianistin Ulrike Buschendorf auf der Bühne hat auch etwas sehr Intimes.

Da erlebt das Publikum den Tanz nah und unmittelbar, nimmt die „Präludien“ als Raumgeschehen wie auch in allen Feinheiten wahr, in der Körperlichkeit, der Intensität des Tänzers. Und spürt jegliches Vibrieren, Atmen, Verharren, aber auch jede atmosphärische Störung des so wunderbar stimmigen Gefüges. Nils Freyer tanzt die Bach-„Präludien“ in der Übertragung von Manfred Schnelle in bekannter Reihenfolge, also ebenso mit „rückläufiger“ Wiederholung. Und so entstehen Differenzierungen, formt sich das Bild eines Kreislaufes, die wissende Sicht auf ein von Tanz, von künstlerischen und politischen Konfrontationen geprägtes Leben. Dass der Absolvent der Staatlichen Ballettschule Berlin über eine solche Lebenserfahrung kaum verfügt, ist naheliegend, aber man spürt deutlich, mit welcher Ernsthaftigkeit er sich diesen Tänzen widmet und wie sehr sie ihm entsprechen, wenn er sie wahrhaft tänzerisch zeigen kann. Andererseits gelingt ihm das zu deutliche Zelebrieren von Gesten und Haltungen, jene zuweilen verharrenden Zeichen von Abschied, Offenlegen, sanftem Drängen oder Orientieren mal mehr und mal weniger. Und es wäre sicherlich besser, er würde weniger Manfred Schnelle, sondern mehr seiner eigenen Körpersprache folgen, natürlich immer auch in Hinblick auf Marianne Vogelsang.

So ist das nun mal mit den Rekonstruktionen. Die Tänzer sollen den originalen Choreografien folgen (auch jenen, die sie weiter vermitteln), aber zugleich sich selbst nicht verleugnen, das eigene Körper- und Zeitgefühl, die eigene Prägung. Denn nur so können dieserart Aufführungen überhaupt stimmig sein. Immerhin schafft es Nils Freyer, die Spannung zu halten, und das ist schon kostbar. Zumal es bei diesen Präludien stets auch um Atmosphärisches geht, um Einfühlen, Loslassen-Können, um Persönlichkeit und Zeitgefühl.

Abgerundet wird dieser bewegende Abend im Societaetstheater, der vom Publikum viel Beifall erhält, von dem Berliner Autor Ralf Stabel. Er liest aus seinem in Arbeit befindlichen Manuskript für ein Buch über Marianne Vogelsang, das voraussichtlich im kommenden Jahr erscheinen soll, aus eben jenen Passagen, die auch Manfred Schnelle betreffen. Und spricht beispielsweise in dem Kapitel „Der doppelte Rauswurf“ über folgenreiche Intrigen und Anschuldigungen, die dazu führten, dass Marianne Vogelsang in den fünfziger Jahren als Tanzpädagogin an der damaligen Fachschule für künstlerischen Tanz Berlin entlassen wird. Sie aber ermutigt ihn im April 1953: „Lieber Manfred, Bleib nur unbeirrt bei der Arbeit, es wird und muss alles gut werden! Wenn du wieder zurückkommst und Heinz und Herrmann siehst, so grüße sie sehr von mir. Es ist so, dass ich zwar nicht mehr bei Euch bin – äußerlich – aber ich bin immer bei euch und werde es bleiben. Deine Marianne Vogelsang.“

Diese Freundschaft wird Bestand haben. Und in ihrem letzten Brief an ihn schreibt sie im Sommer 1973 nach Dresden: „Mein lieber Manfred – Es ist schön, dass Du die Bäche wieder tanzen konntest. Am Wochenende nehmen wir die neuen Bäche auf Band und dann beschäftige ich mich damit. Ich komme schon am 8.9. hoffe, du hast dann ausreichend Zeit für die Proben. Ich freue mich schon sehr herzlichst Deine Marianne.“

Geplant ist es übrigens, dass weitere Aufführungen des Abends an jenen Orten stattfinden werden, an denen Marianne Vogelsang gewirkt hat. Also beispielsweise in Berlin, Rostock, Essen, Hannover und Köln. Oder auch in Güstrow, wo Barlach lebte. Für diese Auftrittsorte gibt es schon konkrete Anfragen. Und möglicherweise, zumal die beiden ersten Abende viel Interesse gefunden haben, könnte es ja auch ein Gastauftritt wieder in Dresden sein. Schließlich ist das ihre Geburtsstadt und zudem war Marianne Vogelsang auch eine Schülerin von Palucca. Genügend Gründe, um darüber nachzudenken.

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