Die Unendlichkeit der Zeit
Das TANZtheater International in Hannover hat begonnen und zeigt neben den Arbeiten etablierter Künstler auch die Entwicklungen der Nachwuchschoreografen der letzten Jahre
Was brennt eigentlich in den jungen Choreografen von heute? Welche Themen treiben sie um, wofür entwickeln sie Leidenschaft, was wollen sie ändern an dieser ungerechten Welt? Von einem Künstler-Residenz-Programm wie „Think Big“, das jedes Jahr drei jungen Choreografen die Chance zur acht Mann starken Gruppe und Proben in den Staatsopernsälen gibt, wünschte man sich idealerweise ein paar Fingerzeige. Das Festival Tanztheater international in Hannover und das Ballett der dortigen Staatsoper leisten sich da ein an sich lobenswertes Format. Wie die drei ausgewählten Choreografen es nutzen, ist die eine Sache. Im nun fünften Jahr stellt sich aber immer drängender die Frage, ob man hier nicht stärker in Diskussion kommen muss, sowohl zwischen Jury und Laureaten, die vielleicht doch mehr Coaching brauchen, als auch zwischen Publikum und Künstlern. Das Geschenk professioneller Probenbedingungen in machtgeschützter Innerlichkeit sollte doch stärker mit inhaltlichen Visionen verknüpft sein, als es hier spürbar wurde. Die Kunst ist frei, aber „Think Big“ sollte eben auch nicht nur heißen, dass man mehr Tänzer zur Verfügung hat als in freien Projekten, sondern dass man mit seiner Kunst gesellschaftlich Relevantes bezweckt.
Carla Jordão aus Portugal nennt ihr Arrangement „Projections of the Unconscious“. Sie stellt zunächst Einzelfiguren auf die Bühne, die sie nach eigener Aussage aus der Malerei entnommen hat. Tja. Ob die Barbusige am roten Seil aus irgendeinem Dalí stammt, der Blonde im Leinenoutfit von einem alten Niederländer und die Dame im Kleid aus Skagen, es hilft uns nicht wirklich. Die Charaktere bleiben in sich verschlossen, die Bewegungen karg, das im Titel beschworene Unterbewusstsein kommt nicht zur Geltung. Das Zitat der Figuren schlägt keine Funken, keine Bewegung verblüfft, das Defilé der in Lichtkreisen Gefangenen wird auch nicht beziehungsreicher, als einige Positionswechsel geschehen und der Längste sich mit der Kleinsten verflicht. Am Ende beginnt der Blonde auf der Stelle zu hüpfen, bis er die Augen verdreht und fällt. Aber weder wusste Jordão den Raum zu nutzen noch eine irgendwie ans Unterbewusste rührende Atmosphäre zu erschaffen.
Dagegen ist Edan Gorlicki aus Israel bereits Fachmann. Sein „Vortex“ benanntes Stück ist auch wahrhaftig ein Strudel, eine großartig gesteigerte Kreisbewegung, die nicht nur den Raum voll erfasst, sondern in ihrer Ausstrahlung sogar das Publikum ergreift. Gelungen schon die poetische Verteilung der Tänzer auf der schummrigen Bühne. Unverwandt wandert man kreuz und quer, neigt sich im Sturm, bis alle in einen Strudel gezogen werden, der sie zum Mitlaufen zwingt.
Dabei gibt es sowohl einzelnes Aufbäumen wie Scheitern und helfende Hände, die den Gefallenen wieder in den Kreislauf integrieren. Die gesellschaftliche Aussage liegt auf der Hand. Wird aber auch nicht vordergründig. Denn sobald die Tänzer im großen Kreislauf ihre eigenen Binnenkreise ziehen, Kleingruppen Hand an Hand, bekommt das Tableau die Wirkung von Planetenbahnen. Es gibt sphärische Verlangsamung, Männer, die sich im Zentrum des Taifuns heben, drehen und tragen, dann einen energischen Finalwirbel, bei dem die Tänzerin in der Mitte wie in Béjarts „Boléro“ der alles bewegende Zentripetalkern ist. Mit hip-hopähnlichen Bodenfiguren und durch Schreie angefeuert, reißt sie sozusagen die Welt an sich. Und das Publikum mit. Eine starke Arbeit, auch in der Abstraktion aussagewillig und von den Tänzern kraftvoll umgesetzt.
Die Australierin Ashley Wright fügte mit „Because it isn’t going to come to beginning“ ein recht gewollt rüberkommendes Stück Konzepttheater an, Theater mit Theatervorbehalt, wie es auf vielen sich zeitgemäß dünkenden Bühnen auch im Sprech- und Musiktheater Mode geworden ist. Also bloß nichts tänzerisch erzählen und auch nicht einfach tanzen und auf die Kraft der Bewegungen vertrauen, sondern alles ständig selbst kommentieren. Ein Tänzer macht den Moderator, der die angebliche Publikumserwartung auf illusionistisches Spiel durchbricht. Nichts sei, wie es aussieht, gibt er uns mit, da sehen wir eine Tänzerin, im Sturz über einen Stuhl erstarrt. Leider kennt man solche theatrale Theaterverweigerung nun schon zuhauf, und Wright macht das nicht spannender. Die Seitenabhänger sind natürlich offen und lassen den Blick auf Auf- und Abgänge zu. Eine Art Hausmeister stapelt während der ganzen Performance Stühle. Tänzer spielen mal Sportler, mal keilen sie sich, aber der Schatten ist dann doch wichtiger. Die Tänzerin wird in erneute Sturzposition gelegt, während Tisch und Stühle über die Bühne wandern, von den Tänzern sichtbar unterkrabbelt und bewegt. Alles ist irgendwie Theater, die Wirklichkeit stets trügerisch. Aber die Choreografie bietet trotz guter Raumnutzung letztlich zu wenig Überraschung, zu wenig Perspektivwechsel, am Ende zu wenig authentisches Chaos, nur spürbar arrangiertes.
Ohnehin bleibt diese Art ästhetischer Gesellschaftskritik etwas wohlfeil selbstreferentiell. Am Ende wird das Publikum vom Moderator aus dem Haus geschrien: „Just go!“ In Deutschland ist das jedenfalls gar nicht mehr innovativ, sondern von dieser ranschmeißerischen Frechheit, die längst überwundene Guckkasten-Gewohnheiten meint angreifen zu müssen, wo die wahren Probleme doch auf der Straße lägen.
„Think Big“ brachte drei unterschiedliche Qualitäten zum Vorschein. Die Frage, was junge Choreografen im Krisenjahr 2016 zu diesen Stücken bewog, brannte nachher stärker als zuvor.
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