„Master of Desaster“ von Theater Marabu, Tanzfestival Dance Big! 2024

„Master of Desaster“ von Theater Marabu, Festival Think Big! 2024

Kunst der Verzauberung

Die Jubiläumsausgabe von Think Big!, dem Festival für junges Publikum in München, lädt zum Träumen ein und hält den Spiegel vor

Dramen des Erwachsenwerdens spielen sich nicht nur auf der Bühne ab. Wo sonst, wenn nicht im wirklichen Leben, kann uns das Theater einen Spiegel vorhalten? Dass wir darin manchmal lächerlich aussehen? Dass es manchmal weh tut? Komm schon. Think Big!

München, 16/07/2024

Das internationale Festival für junges und jung gebliebenes Publikum erreichte mit seinem 10. Jubiläum und einer Vielfalt an zeitgenössischen Performances für unterschiedliche Altersgruppen seinen Höhepunkt (siehe auch tanznetz Kritik Für Junge und jung Gebliebene).

In der Schauburg, den Kammerspielen oder dem Schweren Reiter kann jeder bequem im Zuschauerraum sitzen. Oder man kann mit den Händen in den Hosentaschen über den Elisabethplatz laufen und auf Performer*innen treffen, die sich wie bei „The100Hands“ von Jasper Džuki Jelen und Mojra Vogelnik Škerlj in einem großen Käfig tummeln. Wer auf dem Marienplatz auf das Läuten des berühmten Glockenspiels wartet und statt dessen auf eine akrobatische Techno-Performance trifft, der erlebte in den letzten zehn Tagen Think Big! in München. Theater und Performativität werden hier Teil der Stadt. Sie dringen in sie ein und enthüllen nach dem Zufallsprinzip alles, was Theater kann.

Heimat und Identität

In der Hip-Hop-Tanzperformance „Unsolved“ verbindet die taiwanesische Choreografin Fang Yun Lo eine teilweise autobiografische Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte auf ihrer Heimatinsel mit aktuellen politischen Fragen: Wo ist Heimat? Ist sie dort, wo sie verstanden wird? Und wenn sie nicht verstanden wird? Was ist, wenn die Großmutter beim Kochen japanische Lieder singt, mal Hakka, mal Mandarin, aber selten Taiwanesisch spricht? Wie geht die junge Generation mit Konflikten um, die die Elterngeneration nicht lösen konnte? Was ist mit dem vierstöckigen Haus, in dem niemand mehr wohnen will, das aber auch niemand abreißen will?

Fang Yun Lo lässt den taiwanesischen Performancekünstler und Hip-Hop-Tänzer Chih Wen Chung in ihrer Choreografie durch ein verlassenes Geisterhaus ihrer Familie laufen und projiziert dabei Bilder von Geborgenheit, Jugend, Familie und Familienkonflikten, von historischen Ereignissen und unbeantworteten Fragen auf eine staubige Projektionsfläche. Die Dinge und Bilder werden selbst zu Erzähler*innen. Die Live-Kamera dringt in ihr Gewebe ein, an einer Stelle kann man förmlich die Poren in Chungs Nase und Gesicht zählen. Die Videodesignerin Hanna Linn Ernst schafft eine komplexe Welt voller Zeitsprünge und Illusionen, deren Atmosphäre durch die Musik von Patrik Zosse noch verstärkt wird. Wir sehen Kinderzeichnungen auf der Leinwand: „Ich glaube, unsere Eltern haben Angst, den ersten Schritt zu wagen und dabei vielleicht ihr Gesicht zu verlieren. Jetzt wünsche ich mir nur noch, dass es verschwindet,“ klagt Fang Yun Lo von der Bühne aus durch den Mund von Chih Wen Chung die Vorgängergeneration an, die all die Probleme nicht nur des Hauses ungelöst gelassen hat: „Fuck you, stubborn parent generation.“ 

Master of Desaster

Am dritten Tag des Münchner Kindertheaterfestivals Think Big! zeigte das Theater Marabu aus Bonn „Master of Desaster“, eine Geschichte über die großen Sorgen der kleinen Leute. Eine spezielle Mülltruppe besucht regelmäßig Spielplätze, Parks und andere öffentliche Plätze, um sie sauber zu halten. Müll muss entsorgt werden, das Grün muss zurückgeschnitten werden, Nägel müssen eingeschlagen werden, damit sie niemanden verletzen können, und überhaupt muss für unsere kleinen Freund*innen ein sicherer (Spiel-)Raum geschaffen werden. Doch diesmal ist alles anders. Gerade als das Team alles zusammenpacken, Besen und Schaufel einsammeln und sich auf den Weg zum Betriebshof machen will, taucht plötzlich ein mysteriöser Gegenstand auf. Wie ist er auf den Spielplatz gekommen? Wem gehört er, und was ist drin? Das Team der Müllabfuhr zieht alle Register, um die vermeintliche Katastrophe abzuwenden. Mit viel absurdem Humor, Wortwitz und Wortspielen spielen die sieben Darsteller*innen mit den Ängsten und Befürchtungen der (heutigen) Welt und geben dem jungen Publikum die Möglichkeit, dass zumindest für eine Weile alles gut wird.

„Wir müssen zurück, wir haben die Mülltonne vergessen“, ruft einer der Müllmänner (Claus Overkamp), und schon beginnt ein 50-minütiger Wettlauf gegen Angst und innere Unruhe, der mit der Verspieltheit einer Klarinette vorgetragen wird: Mit ihrer Hilfe gelingt es Julia Hoffstaedter, die Illusion eines rückwärts fahrenden Müllwagens zu erzeugen, und nach und nach gesellen sich die anderen Instrumente hinzu. Die Besetzung des klassischen Blasorchesters mag überraschen, da es in einem Sandkasten auftritt und nicht auf einem Friedhof oder einer Hochzeit, aber Master of Desaster ist eine Feier des (jungen) Lebens, und so ist es nur natürlich, dass wir in Bayern Posaune und Helikon dazu hören.

Verzauberung

„Spiel im Spiel“ ist ein Stück über Puppen in uns und um uns herum von der türkischen Choreografin Ceren Oran. Wenn wir spielen, ist alles möglich: Der Boden ist aus Lava, alles fliegt durch die Luft und alltägliche Gegenstände bekommen eine ganz neue Bedeutung. Ein Stuhl ist mehr ein Floß, eine Brücke, ein Haus oder ein Turm. Was wir als Theatertheoretiker*innen mit Jindřich Honzls Bewegung des Theaterzeichens nur schwer fassen können, machen wir als Kinder ganz selbstverständlich: Kopfstand, auf der Seite liegen... Die drei Tänzer*innen steigen in das „Spiel im Spiel“ ein: Der Hut wird zu einer Insel in einem stürmischen Meer, und wo vorher nur unantastbarer Boden war, schlängelt sich nun eine riesige Schlange hinein. Die Welt ist so, wie wir sie auf der Bühne gestalten. Die beiden Teile der Leinwand mit den horizontalen Lamellen sind ein ganz wesentlicher Teil der Show, denn in den Lücken zwischen den Lamellen tauchen nach und nach der (plüschige) Fuchs, Jin Lee, Jihun Choi und Máté Asbóth auf. Die Kinder quietschen vor Begeisterung (es funktioniert immer, wenn die „Diener“ etwas hinter dem Rücken des „Herren“ tun, und Oran verwendet dieses Konzept aus Plautus' Komödien auch hier). Bald beginnt Jihun den bösen Otter zu vertreiben, der sich inzwischen aus den Lumpen auf dem Boden materialisiert hat, berührt mit seinem Stock seinen Schuh und versteckt sich flugs hinter dem Paravent, hinter dem die Schlussszene spielt: Jin kommt von rechts, Jihun von links, Máté steckt seinen Fuß von rechts hinein, Jihun steckt ihn von links heraus und schiebt den Paravent zur Seite, Máté fällt heraus, als wolle er ihn abschütteln. Der Kopf des Fuchses macht alles wieder gut – der Zauber hat funktioniert.

Fesselnde Performance

Für die installative Tanzperformance „Mirkids“ von Jasmine Morand betreten wir das Foyer der Münchner Muffathalle, eines ehemaligen Kraftwerks mit riesiger Turbine an der Isar, zusammen mit den Kindern, für die die Show gedacht ist. Zum Glück nicht nur für sie. Mit ihrer Lage am Englischen Garten schafft die Muffathalle schon per se eine traumhafte Atmosphäre: „Zieht eure Schuhe aus und folgt mir. Ich gebe euch jetzt eine dramaturgische Einführung. Also, es ist eine Vorstellung für Kinder, sie soll euch fesseln, mehr gibt es nicht zu sagen“, fasst der bulgarische Choreograf und Tänzer Krassen Krastev, der in Lausanne in der Schweiz lebt, die Einführung in einfache Worte. Und genau das passiert: Wir werden Teil einer fesselnden Performance.

Das Publikum liegt sternförmig auf der Bühne um einen großen, seltsamen Zylinder herum und schaut in den Himmel. Ein riesiger Spiegel schwebt an der Decke, über den man die Tänzer*innen im Inneren des Zylinders tanzen sehen kann. Manche Betrachter haben das Gefühl, sich von der realen Welt zu lösen. Wie Krassen uns erzählte, bezweifeln manche Kinder sogar, dass das, was sie im Spiegel sehen, real und nicht nur digital ist – Bildschirm eines Smartphones oder Tablets. Sie haben nur wenige Anhaltspunkte, die sie vom Gegenteil überzeugen, denn die phänomenale Existenz der Körper der Tänzer*innen ist im Zylinder versteckt, man hört nur das rhythmische Stampfen. Man spürt, wie der Boden unter einem bebt. Aber vielleicht hilft es, die Wände abzutasten, die schmale Schlitze haben, durch die man hineinsehen kann.

Verwischte Realität

Der achte Tag des internationalen Festivals bringt ein Stück für Jugendliche mit einem Rezept aus der heimischen Küche der israelischen Choreografin Reuth Shemesh. Aber es ist nicht einfach, nach diesem Rezept zu kochen: Zu den Erinnerungen an die Kindheit und den lebhaften Bildern des Erwachsenwerdens, der ersten Verliebtheit, der Suche nach Verantwortung und Disziplin oder die ersten Jobs, bei denen Uniformen getragen werden müssen, kommt das Salz: das dramaturgische Konzept. Letzteres verbirgt sich hinter wechselnden Uniformen, Ausziehen und Umziehen, wörtliche Anweisungen. Es ist, als hätte die hyperrealistische Malerin Magda Torres Gurza ein Modell ihres Stilllebens ausdrucken lassen, bevor sie mit Bleistift oder Öl eingriff. Diesen Eindruck hatte ich auch bei der Szene, in der die koreanische Tänzerin Mihyun Ko ihr hautfarbenes Trikot zeigt.

Aufgrund der dynamischen Natur des Theaterzeichens ist es für das Publikum offensichtlich, dass es sich um eine Darstellung der nackten Figur Mihyun handelt. Shemesh und die Kostümbildnerin Marie Siekmann wollten hierbei nicht nur diese Tatsache betonen, sondern auch die sekundären Geschlechtsmerkmale hervorheben: Das Trikot hat ausgeprägte Brustwarzen und Schamhaare. Es ist der Moment, in dem aus unerfindlichen Gründen mit Buntstiften auf ein Foto gemalt wird und sich die Frage stellt: Könnte das der erste Liebhaber sein. Tänzer Kelvin Kilonzo packt Mihyun von hinten, sie bewegt sich in eine allmählich sitzende Position, während Kilonzo seine Hände auf ihre Brüste legt. Als die Spannung in ihren Körpern nachlässt, wandern ihre Handflächen über Mihyuns Gesicht. Der Bleistiftstrich auf dem Foto scheint ausgelöscht... wir sehen nur noch die Realität. 

In einer der Schlussszenen werden Fotos projiziert: Sie sehen aus wie Kindheitserinnerungen, sind aber offensichtlich gar nicht von dieser Welt. Sie scheinen dunkle Klänge mit hellen Tönen zu vermischen, die von AI komponiert wurden. Es ist beeindruckend und unheimlich, denn hier werden auch Kinder in Situationen gezeigt, die gar nicht kindlich sind: als Soldaten oder Polizisten bei einem Einsatz. Das ist wohl der stärkste Moment der Inszenierung, in dem wir erkennen können, wie stark sich die Kinderseele während des Heranwachsens verändert. Vor allem ähneln sie den menschlichen Monstern aus dem MGMT-Kids-Video: „The memories fade like lookin’ through a fogged mirror.“ 

Groß denken

Der Festivaldramaturgie von Simone Schulte-Aladağ und Andrea Gronemeyer ist es nicht nur gelungen, ein Programm zusammenzustellen, das sehr junges Publikum von wenigen Monaten bis zu den Älteren ab 14 Jahren anspricht, sondern viele der Stücke passen auch problemlos in unsere „erwachsene“ Welt. Jasmine Morands Mirkids wird selbst die kritischsten Zuschauer*innen in ihren Bann ziehen, die Bewegungen von Haptic Hide werden hoffentlich jeden dazu bringen, Tänzer*innen zu werden, und die Show „Esther“ von Reut Shemesh wirft die Frage auf, wie man über das eigene Erwachsenwerden nachdenkt. 

Das Festival hat sich in den letzten 10 Ausgaben ein Stammpublikum aufgebaut, aber dank seiner Internationalität auch über München und Bayern hinaus Aufmerksamkeit erregt. Die zehnte Ausgabe des Festivals stellte die Fragen: Wo sind wir zuhause (Polymer)? Wie gehe ich mit den Problemen um, die mir die Welt stellt (Theater Marabu)? Was ist mit der ersten Liebe (De Dansers und Reut Shemesh)? Wie lange kann ich spielen (Morands und Matsumoto)? Und als Antworten stehen parat: Wir sind daheim, wo wir geliebt werden. Probleme können geteilt und gemeinsam gelöst werden. Die erste Liebe bleibt für immer bei uns, und spielen können wir ein Leben lang. Wir müssen nur „groß denken“ und den Mut dazu haben.

 

Tomáš Kubart ist ein Theaterwissenschaftler und Theaterkritiker aus der Tschechischen Republik, er schreibt u.a. für die Webseite „Taneční zóna“. Im Rahmen einer Kooperation von PerformCzech und tanznetz, konnte Tomáš Kubart 10 Tage in München das Festival „Think Big!“ als Journalist begleiten. Neben den beiden tanznetz Berichten erschienen in den „Taneční zóna“ zahlreiche Artikel zu den einzelnen Vorstellungen.

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