„Carcasse“ von Léonard Engel, Tanz: Ensemble

„Carcasse“ von Léonard Engel, Tanz: Ensemble

Verfall des Ichs

Düstere Uraufführung „Carcasse“ von Léonard Engel in München

Léonard Engel setzt sich in „Carcasse“ mit der Hoffnungslosigkeit auseinander. Als Hauptmittel dient ihm eine Physikalität abstoßender Hässlichkeit.

München, 08/04/2025

Beim Betreten des Saals ist ein urtümlich-lautes Schnarchen zu hören. Am Boden liegen, bäuchlings ausgebreitet, fünf Körper. Sie sehen aus, als wären sie von irgendetwas Gewaltigem niedergemäht und ihnen das letzte Quäntchen Kraft geraubt worden. Ein mühevoll langsames Erwachen beginnt, sobald das Publikum Platz genommen hat. Es knarzt und knirscht. Ellenbogen werden aufgestützt, bleischwere Hüften hochstemmt. Das kollektive Sich-Aufrappeln und stufenweise Wieder-auf-die-Beine-kommen beansprucht fast zehn Minuten. Dann setzt sich das kleine, ungleiche Grüppchen allmählich in Bewegung – mit hängenden Schultern und rückwärts torkelnden Schritten.

So richtig mit Lust bei der Sache scheinen diese Interpret*innen nicht zu sein. Nur ab und an unterbrechen spontan aufkeimende Emotionen die in „Carcasse“ generell vorherrschende Willenlosigkeit – stets nah am Abgrund des totalen Zusammenbruchs. Da visiert Jin Lee, die das erste Mal mit Léonard Engel zusammenarbeitet, plötzlich – wie trunken von einem Gefühl – das Publikum direkt an. Mit getrübtem Blick formt sie mit ihren Fingern ein Herz und schickt den Zuschauern noch ein Küsschen hinterher. Tian Rotteveel hingegen flüchtet sich wiederholt in ein grundloses Lachen. Sogar zum Schluss, als er mit den anderen wieder zu Boden stürzt – das Gesicht dem Publikum zugewendet –, verzieht er seinen Mund zu einem breiten Grinsen.

Wie groß muss die Perspektivlosigkeit eigentlich sein, um einen Menschen oder eine ganze Gesellschaft vollends zu brechen? In seiner jüngsten Produktion „Carcasse“ hat Engel auf die Bühne gebracht, was ihn als freischaffenden Künstler und Individuum persönlich mehr und mehr umtreibt: das lähmende Gefühl von äußerer Instabilität, Hoffnungslosigkeit und Zerstörung. Dies spürbar zu machen, ist Engel auf erschreckend anschauliche Weise gelungen. Auslöser für sein Tanzstück, das tiefste Abscheu über körperlichen Verfall thematisiert, ist die beständige Flut von immer neuen, beängstigenden Problemhorizonten aus aller Welt. Denen sieht sich Engel – gerade als dreifacher Familienvater – weitgehend hilflos ausgeliefert: „Trotzdem kreieren wir weiter Tanzstücke und machen Theater“. 

Alternativloser Totentanz

Sein Blick auf einen Zustand, in dem keine Aussicht auf eine positive Entwicklung erkennbar ist, kommt drastisch alternativlos wie ein Totentanz daher. Die Atmosphäre im Raum unter tiefhängenden Scheinwerferschienen, inmitten diffuser Lichtstimmungen sowie zwischendurch abrupt abbrechenden Soundeinspielungen unterschiedlicher Bands (Jockstrap, Chuquimamani-Condori), Musiker (Chris Watson, Chuck Berry) und Komponisten (Antonio Vivaldi, Tian Rotteveel – einer der Tänzer) bleibt von Anfang bis Ende bedrückend. Daran vermag auch Fröhlichkeit, vorgebendes Twisten, vermeintlich feierlauniges Abtanzen, zu Barockklängen Trippeln oder ein Reigentanz, bei dem sich Tänzerinnen und Tänzer an den Händen fassen, nichts zu ändern. 

Gleich einer Faschingspolonaise schlängelt man erst zombiehaft durch den Raum, um sich dann immer enger miteinander zu verknoten. Die Nähe des anderen hält in „Carcasse“ allerdings niemand aus. Mit eindeutigen Lautäußerungen des Ekels und voller Abscheu – vor sich selbst und dem Rest – rücken die Protagonist*innen schnell wieder voneinander ab. Jeder hier ist und bleibt in seinem Schmerz letztlich allein. Nicht einmal dann, wenn Engel in einem Duett kurz das sich synchronisierende Nebeneinander eines Paares zulässt, entwickelt sich aus dem Bewegen Schulter an Schulter ein zwischenmenschlicher Austausch. 

Dicht vor den Augen des Publikums wird sehr eindrücklich ein fatales Endzeit-Szenario ausgebreitet – ohne jeglichen Versuch, Antworten oder Lösungen für das Desaster vollkommener Ohnmacht zu finden. Stattdessen konfrontiert der Choreograf den Zuschauer mit einem Panoptikum zerrütteter, ausgelaugter, scheintoter Typen. Längst vergessen scheint, was sie – auch tänzerisch – alle einmal beherrscht haben. Abgeschottet von der Außenwelt versuchen sie zwar, erinnerte Verhaltensmuster abzurufen, doch niemandem gelingt es, sich und seine Motorik wieder richtig in den Griff zu bekommen.

Seit bald zehn Jahren ist der ehemalige Solist des Bayerischen Staatsballett als freischaffender Tänzer und Choreograf tätig. Mit Ballett haben seine Arbeiten längst nichts mehr gemein. Diesmal zeichnet Engel ein schockierend düsteres Psychogramm. Zu „bewundern“ gibt es in seiner fünfköpfigen Truppe persönlichkeitsstarker Tänzerinnen und Tänzer kaum etwas. Seine Protagonist*innen sind allesamt gebrochen und innerlich zerfressen. Dennoch sollen sie – durch äußere akustische Reize angestoßen und getriggert – irgendwie weiter funktionieren. Das wird ihnen – ob sie wollen oder nicht – aus dem Off durch bisweilen heftig laute, zu regelrechten Partysoundgewittern anschwellende Musik diktiert, die ihre alten müden Knochen (Französisch: ma vieille carcasse) zum Tanzen zwingt. 

Als Ausgangspunkt für die beklemmende, choreografisch wie darstellerisch trefflich umgesetzte Studie nennt Engel das titelgebende Wort „Carcasse“ (Deutsch: Gerippe). Es bezeichnet das nach dem Tranchieren beispielsweise von Geflügel zurückbleibende Knochengerüst samt anhaftender Fleisch- und Hautreste. Dieses Bild, das beim Betrachten Abneigung und Widerwillen erregt, haben Gizem Aksu, Tasha Hess-Neustadt, Jin Lee, Mikael Marklund und Tian Rotteveel grandios verinnerlicht. Jeder für sich und gemeinsam treten sie dermaßen schauerlich kaputt auf, dass es einem beim Zusehen nur den Hals zuschnüren kann. Dessen ungeachtet ist „Carcasse“ sehenswert – und ein Weckruf, es keinesfalls selbst so weit kommen zu lassen.

 

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