Kunst der Verzauberung
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„Bodies in Rebellion“ von Zufit Simon im schwere reiter München
Wann tickt ein Mensch, wann eine Gesellschaft aus? Kann man tänzerisch Momente einfangen – wie die eines Kräfteverhältnisses zwischen Opfer und Aggressor, zwischen dominiert werden und sich einer Instanz unterwerfen? Körper sind da wie Seismografen. Sie können leise auftreten oder „sakrisch“ laut werden. Die Art ihrer Haltung vermag dem Publikum vieles zu verraten – über mögliche auf sie einwirkende äußere Mächte, eigene innere Zustände, gute wie schlechte Gefühle oder den Zerfall beziehungsweise engen Zusammenhalt von Gruppen in unterschiedlichen Lebenslagen. Eine reale oder konkret fassbare Verankerung braucht es dazu nicht – nur Interpreten, die famos unscheinbar und doch ganz bewusst mit Ambivalenzen spielen können. Das ist das Tolle beim Tanz. Denn Passagen dürfen sehr eindeutig sein und zugleich völlig assoziationsfrei.
Lässt man sich auf die Mitteilsamkeit purer Körpersprache in Zufit Simons neuer Tanzproduktion „Bodies in Rebellion“ ein, kann der Betrachter subtile Befindungsverschiebungen oder Wesensveränderungen wahrnehmen, die sich oft in Sekundenschnelle auftun. Anfangs ist allerdings etwas Geduld gefragt, da das gestische ABC, das diesem Werk zugrunde liegt, erst eine Akteurin zeigt, dann zwei, dann drei und zuletzt alle vier Mitwirkenden wieder und wieder durchgehen. Hinsetzen. Aufstehen. Arme nach oben. Vorbeugen. Arme verschränkt hinter den Kopf. Platzwechsel. Kauerstellung. Hinsetzen. Seitlich umkippen.
Kollektive Dynamiken
„Bodies in Rebellion“ beginnt simpel. Tänzer*innen nehmen bestimmte Positionen ein, halten diese und wechseln sie dann. Langsam entstehen aus den Bewegungsabfolgen der Einzelnen kollektive Dynamiken. Das Phänomen funktioniert aber auch prächtig andersherum, wenn die Choreografin Situationen zum Auflodern und wieder Abklingen bringt – allein anhand dessen, wie sie die vier Körper auf der Bühne in Bewegung setzt. So kommt ein Stück zustande, das dezidiert dazu auffordert, stets genau hinzuschauen, weil die Wechsel von einem emotionalen Aggregatszustand in einen anderen – bald mehr und mehr – zu verfließen scheinen.
Da streift eine Hand langsam von der Taille über den Magen zur Brust hinauf. Brodelt dort etwas Ungutes? Wer möglicherweise Angst vor Schlägen hat, hält sich die Arme schützend über den Kopf. Missfallen lässt sich durch promptes Ausspucken ganz einfach bekunden. Stampfen vier Leute eingehakt in einer Reihe, wird der Rhythmus ihrer nackt auf den Boden klatschenden Füße zum Protest. Bei einer Aktion nicht mitmachen zu wollen, kommt einem passiven Widerspruch gleich.
Mit körperlichen Formen des Protests hat sich die israelische Performerin und Choreografin Zufit Simon bereits in ihrer Produktion „Radical Cheerleading“ sehr intensiv und erfolgreich auseinandergesetzt. In ihrer jüngsten Kreation „Bodies in Rebellion“ geht ihre choreografische Recherche über den – insbesondere physischen – Umgang mit Machtverhältnissen nun in die nächste Runde. Aber sie scheint hier wieder ganz neu an einem Punkt Null zu beginnen.
Reduktion auf den Körper
Alle Requisiten oder Verkleidungseffekte – wie das den rein motorischen Einsatz der Tänzer*innen in „Radical Cheerleading“ bunt und effektvoll bereichernde Drumherum – wurden diesmal rigoros über Bord geworfen. „Bodies in Rebellion“ erzielt Wirkung, indem sich jeder im Team ganz und gar auf seinen Körper als Instrument des Ausdrucks konzentriert. Sogar der lange stark zurückgenommene akustische Part (Musik: Fredrik Olofsson) der einstündigen Performance entwickelt sich sozusagen step by step – wie eine Folge erst lose aneinandergereihter Körperhaltungen, die sich allmählich zu einem Bewegungskatalog und dann später zu choreografischen Phrasen zusammenfügen. Plötzlich fährt jedem im Saal ein ohrenbetäubendes Geheul von Sirenen durch Mark und Bein, das famoserweise aus den chorischen Stimmen der vier ungleichen Protagonisten Dorota Michalak, Sunayana Shetty, Cary Shiu und Zufit Simon selbst generiert wird. Allein die raffinierte und dank der Headsetmikrofone live erzeugte Steigerung hin zu dieser Szene lohnt den Besuch.
Rücken an Rücken hock das Quartett in der Mitte am Boden, gegenseitig über die Arme sozusagen miteinander verkettet. Man hört und sieht, wie sie ruckartig Atem ausstoßen, merkt irgendwann, dass sich ihre Lippen bewegen. Der Klangkosmos um sie herum wird sirrender, klagender, vokaler. Durch die Stimmen der Tänzer*innen selbst, die sich nach und nach zu so unterschiedlichen Heultönen wie der einer Polizeisirene oder eines Krankenwagens intensivieren, wandelt sich das Bild aufmüpfig Demonstrierender. Der Menschenkreis ist nicht mehr alleiniger Quell der Gefahr, sondern rutscht selbst ins Zentrum der Bedrohung, überfahren, überrannt oder platt gemacht zu werden. Ein Schritt, eine Geste, ein Sound reichen aus, um den Blickwinkel auf brisante Situationen urplötzlich in ihr Gegenteil zu verkehren. Das macht dieser Moment, in dem die Stimmung kippt, wunderbar deutlich.
Steigender Aggressionslevel
Zufit Simon geht sogar noch etwas weiter. Sie lässt Cary Shiu allein auf der Bühne zurück und öffnet über ihm die Nebelschleusen. Das Licht flackert, das reale Schreien ist verstummt, hallt aber noch eine ganze Weile echoartig durch den Saal. Dann leitet ein kurzer Blackout zum zweiten choreografischen Teil über, den Beat und beinahe folkloristisch durchorganisiertes Stampfen kennzeichnen.
„Bodies in Rebellion“ wurde Ende Oktober in Berlin uraufgeführt. Bei der Premiere in München ist man erst einmal über die Stille erstaunt. Leise nur schwingt so etwas wie elektronisches Wummern im Saal mit. Das Publikum hat in Stuhlreihen Platz genommen, die die Tanzfläche von allen vier Seiten einrahmen. Darüber an der Decke ist gleichfalls ein starres Quadrat gespannt. Die dort hängenden Neonröhren beleuchten nüchtern den sonst schwarz verhängten Raum. Am Ende wird viel in Formation marschiert und dem Bewegungskatalog des ersten Teils neue Elemente hinzugefügt.
Der Aggressionslevel steigt; das Tempo, in dem getanzt wird, nimmt zu. Dorota Michalak, Sunayana Shetty, Cary Shiu und Zufit Simon durchmessen den Raum vorwärts und rückwärts und halten irgendwann im Kreis stehend an. Von einem auf den anderen Fuß tretend wippen sie – ihr Gegenüber im Blick – am Platz hin und her. Aus ihren Mündern purzeln bruchstückhafte Geräusche, die sich – elektronisch aufgefangen und wieder eingespielt – zu „We are here“ zusammensetzen. Rufe wie „Stay“ übertönen Beats und Percussion. Noch einmal erklingen die Sirenen, und über die erneut am Boden Sitzenden flackert das Licht. Auf Schreie folgt Stille. Nur durch den Raum saust noch der Nachhall: „Power no more!“. Eine sinnhaftere Quintessenz hätte es nicht geben können.
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