„Cry Why“ von Moritz Ostruschnjak

Verstörend schön

Moritz Ostruschnjaks „Cry Why“ im schwere reiter

Nicht zum ersten Mal arbeitet der Münchner Choreograf mit Inlineskates. Nun aber werden ihnen motorisch und inhaltlich eine wichtige symbolische Bedeutung zugewiesen.

München, 19/09/2024

Wäre Moritz Ostruschnjaks Uraufführung „Cry Why“ ein Gemälde, könnte es glatt von Edward Hopper sein. Immer wieder schleichen sich Wiederholungen in den Ablauf ein. So sinnfällig der Kunstgriff auch sein mag, dass manche Sequenzen bewusst erneut in anderem Kontext aufploppen – verursacht es doch zum Ende hin einige Längen. Macht aber nichts, denn die neue Tanzproduktion ist voll von betörend schönen Momenten und weiß zu berühren.

Da ist zum Beispiel diese weite, mit einer großen Hand in Hüfthöhe bedruckte Shorts. Getragen wird sie von der Tänzerin Miyuki Shimizu, die in ihrem Solo zu Beginn des Stücks kurz und genau eine solche Handhaltung übernimmt. Ihr Kollege Guido Badalamenti versteckt später quasi Haupt und Haar. Stattdessen krönen seinen muskulösen Oberkörper vier schräg zur Decke ragende Inline-Skate-Rollen. Lange kniet der Tänzer so – reglos wie die Skulptur eines extraterrestrischen Gladiators – am Boden und regt das Publikum bewegungslos zu Assoziationen an.

Premieren im zeitgenössischen Tanz gleichen oft einem Blind Date. Da kann der erste Kontakt schon mal irritierend wie bedrückend sein. Was einen erwartet, lässt sich über die angekündigten Fakten hinaus vorab ja selten in seiner Wirkung erahnen – auch wenn sich mit der steigenden Anzahl besuchter Vorstellungen bestimmter Choreografen gewisse Erwartungshaltungen einstellen mögen. Bei Moritz Ostruschnjak springt die Performance seiner stets tollen Interpret*innen das Publikum meist früher oder später regelrecht an. Nur dass diesmal die Tänzerin, der Tänzer und der omnipräsent on stage anwesende Pianist viel weniger fetzig agieren. Auch die Kombinierlust harter Schnitte, komischer Effekte und knalliger Überraschungsmomente sind Eigentümlichkeiten, die in Ostruschnjaks kreativem Schaffen längst zu einer Art Markenzeichen geworden sind.

Bei seinem jüngsten Wurf „Cry Why“ trifft manches davon zumindest auf den Stücktitel zu. In radikaler Verknappung werden hier Roy Orbinsons sentimentaler Popsong „I’d been crying over you“ mit Yoko Onos dauerkreischendem „Why“ zu einer stilistisch paradoxen und inhaltlich hintergründigen Einheit verschmolzen. Tonangebend eingesetzt wird hingegen keines der beiden Popwerke. Vielmehr nutzt der Choreograf sie punktuell für Passagen, die einen Bruch im strukturellen Flow herbeiführen beziehungsweise wie ein gedehnt-fließender Übergang funktionieren. Das klappt überaus fein austariert bei einer Spieldauer von insgesamt 70 Minuten nicht nur an diesen zwei Stellen wie geschmiert.

Einmal setzt sich Miyuki Shimizu kurz ans Klavier. Dem Publikum wendet sie dabei den Rücken zu. Halb verdeckt von einem zweiten, zu diesem Zeitpunkt mitsamt Pianist Reinier van Houdt genau davor im Raum platzierten Instrument lässt sie ihre – immer wieder – gestisch höchst beredten Finger über die Tasten gleiten. Für ein Stück von Claude Debussy wird die Interpretin plötzlich eins mit dem sie gerade noch begleitenden Musiker – inmitten eines Abends, dessen eigentliches Fundament Teile der Klavierzyklen „Inner Cities“ und „Dead Beats“ des amerikanischen Komponisten Alvin Curran sind.

Der Eindruck einer emotionalen Oase des Sich-wortlos-Verstehens auf einem Performancetrip durch die Höhen und Tiefen menschlicher Stärken und Zerbrechlichkeit macht sich breit. Doch nichts in „Cry Why“ hat dauerhaft Bestand – weder die bisweilen farbig aufflackernden Lichteinstellungen noch der akustische Pegel. Mitunter gerät sogar das schwere Mobiliar dermaßen in Bewegung, dass Hocker und Klaviere auf ihren Transportrollen über die Bühne wirbeln als seien sie schwerelos. Etappe für Etappe wechseln deren Standorte und die abstrakten, lose miteinander verknüpften Geschichten – rein körperlich erzählt von zwei Tänzer*innen und einem Pianisten – nehmen jedes Mal eine weitere überraschende Wendung. 

Shimizus erstes, inhaltlich federführendes Solo mündet bezeichnenderweise in einen rein musikalischen Dialog melancholischer Harmonie. Es ist ein berührender und seltsam intimer Moment, der auf eine kuriose Tanzdarbietung in bizarrem Stilmix aus kess-flippigen Show- und im Drive zu Posen gezügelten Ballettelementen folgt. Dabei hat man noch gut das Klanggetöse ganz zu Beginn der Aufführung im Ohr, bei der im Verlauf so ziemlich alles aus dem Lot zu geraten scheint. Dennoch bleibt – wundersam famos auch dies – künstlerisch die Balance zwischen Raum- und Klangwirkung, zwischen den drei Mitwirkenden und ihren völlig unterschiedlichen Bewegungsmodulen, zwischen Livemusik und aus dem Off hereinbrechenden Song-Text-Einspielern stets gewahrt. Der Kern der Handlung bleibt allerdings bis zum Schluss offen – abgesehen von einem Zitat aus Büchners „Woyzeck“, das in seiner märchenhaften Weltfremdheit unglaublich gut mit dem zusammenpasst, was Gesicht und Körper der Tänzerin überaus eindrücklich vermitteln: „Es war einmal ein arm Kind ... war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt ... und weil auf der Welt niemand mehr war, wollt’s in den Himmel gehen, ...“. Einsamkeit, eine Reise durch unbekanntes Terrain und fabulöse Begegnungen sind schon zuvor als erkennbare Motive eingeführt worden.

Von der Seite rollt sich schwungvoll Guido Badalamenti ins Blickfeld. Alles an ihm ist Ausdruck, egal welche Pose er einnimmt. Immer größer werden die Kreise, die er gleich einem routinierten Eistänzer mit oft erhobenen weichen Armbewegungen um Shimizu, die gern an einer Stelle verweilt, und van Houdt zieht. Dass er dabei nur einen Inline-Skate-Schuh trägt, fällt kaum auf, so elegant flitzt er zwischen den beiden Klavieren hindurch. Sein anderer Fuß steckt in einem Sneaker. Die Versehrtheit eines Körpers oder seelisches Verletzt-Sein kommt – wenn überhaupt – erst später thematisch ins Spiel. Da hat Shimizu längst aus dem ihr vom vorbeisausenden Badalamenti zu Füßen gelegten Rucksack den anderen Rollschuh hervorgeholt und sich diesen über die Hand geschnallt. Als Prothese verfremdet das fortan nicht nur ihren Arm.

Insgesamt kommt „Cry Why“ trotz mancher lauter Sequenzen erstaunlich leise, oft sehr zurückgenommen, teilweise zwischenmenschlich sehr behutsam und oft wahnsinnig reduziert daher. In seiner handwerklichen Textur und emotionalen Tragweite erinnert das Stück fast an ein fein geklöppeltes Tüchlein, das sich im bisherigen Werkkatalog des Choreografen quasi unter robust gewebten Gruppenstücken à la „Yester:Now“ oder „Rabbit Hole“ erst einmal wird behaupten müssen. Der Unterschied ist – bei vergleichbarem Detailreichtum – subtil. In „Cry Why“ dominieren Livemusik und Tanz. Auf Videoclips wird komplett verzichtet. Der Fokus wird wiederholt auf die zwei Klaviere gerichtet, die mehr und mehr eine Art Eigenleben zu entwickeln scheinen. 

Als Ostruschnjak Tänzer*innen erstmals 2022 in „Terminal Beach“ auf einem Rollschuh kunstfertig durch die Gegend gleiten ließ, arbeiteten diese seinen Einfall in die dynamische Produktion als technisch quasi „problemlose Nebensächlichkeit“ mit ein. Nun aber wird dem Schuhwerk auf Rollen sowohl motorisch als auch inhaltlich eine wichtige symbolische Bedeutung zugewiesen. Als Armfortsatz kracht der Inline-Skate auch mal auf die Tastatur, um dann die Melodie des Pianisten als dritte Hand am zweiten Instrument – zart vor- und zurückrollend – zu bereichern.

Seine zwei fabelhaften Tänzer hat Ostruschnjak jeweils solistisch und als Einzelgänger ins Rennen schickt. Ab und an finden sie jedoch in Duetten zueinander. Ihre Arme und Beine verhaken sich zu menschenfremden Wesen. Mit Hilfe der Rollschuhe gelingen auf diese Weise urtümlich berührende Bilder von großer Indifferenz. Wer macht hier aus welchem Grund was? Bevor man die Frage für sich beantworten kann, bricht „Cry Why“ ab – mit einem dieser intensiven Blicke eines der Protagonist*innen Richtung Publikum.

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