„grace under pressure – studies in space“ von Micha Purucker

Barock in Zeitlupe

„grace under pressure – studies in space“ von Micha Purucker in München

In „grace under pressure – studies in space“ hinterfragt Micha Purucker choreografisch Stereotypen und den emotionalen Gehalt von Körperbildern. Im nüchternen Ambiente eines imaginär-wissenschaftlichen Umfelds treffen barocke Vanitas-Motive auf gefühlsbetonte Gesten von Resignation und erwartungsvoller Zuversicht.

München, 13/01/2025

Tanz im Museum, das kennt man ja. Immer wieder finden choreografische Happenings in öffentlichen Kunstsammlungen statt. Mal folgen Besucher*innen den Performer*innen quer durch verschiedene Säle, mal treten Tanzende mit ausgewählten Exponaten in einen Dialog. Oder ein Ausstellungsraum wird zur Bühne für ein Stück. Derartige Kooperationen zwischen Künstler*innen und Institutionen rütteln an herkömmlichen Sehgewohnheiten. Im besten Fall bereichern respektive weiten sie den Blick auf Körperbewegung, Farben, Formen und Motivik. Was aber, wenn die Bildende der Darstellenden Kunst einen Besuch im Theater abstattet?

Dann pappen im Schwere Reiter verblichene Kopien alter Fresken oder barocker Altarbilder an der Wand. Weitere religiöse Schinken hängen mobil von der Decke. Es gibt fahrbare Steller mit Gemälden, die unter einer darüber aufgebrachten weißen und teilweise eingerissenen Schicht bloß noch zu erahnen sind. Das so zu Beginn noch eng kulissenartig ineinander gestaffelte Arrangement im Hintergrund wird nach und nach zum Schauplatz einer tänzerischen Reinkarnation. Die Zuschauenden nehmen auf Kissen Platz und dürfen eine Stunde lang zusehen, wie das geheimnisvolle Ambiente eines verlassenen Depots zum Leben erwacht, sich das Atelier in einen Studienraum verwandelt. Hier werden die Bilder immer wieder untersucht, um deren situativen Inhalten dann wiederum mit den Mitteln des zeitgenössischen Tanzes nachzuspüren.

Sechs Protagonist*innen, einen nach dem anderen, lässt Micha Purucker langsam durch die Mitte des Lagers und von den Seiten auftauchen. Ihre Bewegungen sind weich und fließend. Müsste man eine Richtung definieren, wäre dies ein Fallen von oben nach unten. Ein leiser sphärischer Klang füllt zuerst mit einem Windsäuseln, später mit weiteren, lärmigeren Geräuschen und sich überlagernden sakral anmutenden Musikpassagen (Sound: Robert Merdžo) den Raum. Wie die Akustik verändern sich bald auch die Lichtstimmungen (Michael Kunitsch). Aurora Bonetti, Michal Heriban, Marcos Nacar, Hikaru Osakabe, Anise Smith und Polina Sonis tasten sich mit behutsam flatternden Armen vor. Alle tanzen in sich hinein. Ihre Beine finden unter den sich um die eigene Achse windenden Körpern nur kurz etwas Stabilität, bevor sie weitergewirbelt werden. 

Vom Himmel stürzende Engel

Es ist, als wollten die Tänzerinnen und Tänzer es den vor Jahrhunderten auf die Leinwände gemalten Engeln gleichtun und vom Himmel herab auf die Erde stürzen. Das ermöglicht Purucker, kirchliche Ikonografie ins Zentrum einer Bühnenarbeit zu rücken, die das mit Zeichenstift und Pinsel festgehaltene Gestenvokabular vergangener Epochen einer Probe hinsichtlich heutiger Verständlichkeit und weiterhin rezeptiver Gültigkeit unterzieht. Eine Geschichte ohne Erzählstrang, ohne Anfang und Ende wird daraus, weil der Choreograf seine Crew regelrecht aus dem Bilderdepot herauspurzeln und an einem Ort ankommen, an dem reale Zeit und Bewegungsgeschwindigkeit keine Bedeutung mehr hat.

„Anmut unter Druck – Studien im (Welt)Raum“ – so könnte man den Titel von Micha Puruckers jüngster Kreation frei übersetzen. Getanzt wird darin ebenso himmlisch berückend wie irdisch kraftvoll. Köpfe neigen sich in Zeitlupe, Arme geistern langsam umher. Eine Hand sucht nach Halt in der Luft, die Finger der anderen streben zu Boden. Fein herausgearbeitet fokussiert sich alles um das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen unterschiedlichen Empfindungen. Je nachdem, in welche klangästhetische Richtung Sound und Rhythmen, die Robert Merdžo aus diversen Geräuschkulissen und klassisch-barocken Einsprengseln generiert hat, gerade tendieren, gleitem die Tanzenden affektvoll von einer in die nächste Pose. Haftet den Bewegungen etwas Impulsives an, nehmen diese ihren Lauf entweder auf scheinbar streng geometrisch vorgegebenen Bahnen oder entwickeln sich frei über den Tanzboden oszillierend und in wechselnden Gruppierungen ganz im zeitgenössisch-typischen Stil.

Christliche Bildmotive im Stresstest

Als ureigenes choreografisches Thema setzt sich Puruckers neues Tanzstück „grace under pressure – studies in space“ mit christlicher Bildmotivik auseinander. Laut Ankündigungstext will Purucker damit einen „exemplarischen Stresstest in Form eines szenischen Palimpsests“ vorlegen. Klingt im ersten Moment recht komplex. Doch die Uraufführung am 9. Januar 2025 im Münchner Schwere Reiter ist viel gefälliger als übertrieben kompliziert thematisch verschränkt. Weder überfachten Texte das überschaubare Setting, noch muss das Publikum sich durch eine Installation oder Zettelfluten arbeiten. Das alles gab es bereits in den vergangenen 40 Jahren, seit Purucker sich als Choreograf freiberuflich und stets projektflexibel wie ein Chamäleon in Münchens Tanzszene behauptet.

Im Gegensatz zur zeitgleich im HochX uraufgeführten Produktion „Muje“ mit live interagierender Musikerin und Lichtdesigner des südkoreanischen Duos Zinada fehlt Puruckers jüngster Kreation das Potenzial, Zuschauer musikalisch und/oder emotional vom Hocker zu reißen. Dafür weiß er durch akribische Recherchearbeit zu überzeugen, die seinen Interpret*innen regelrecht in Fleisch und Blut übergegangen ist. Rubens „Engelssturz“ und Leonardo da Vincis „Abendmahl“ sowie die Pietá spielen dabei eine wichtige Rolle. Indem Szenen daraus aufgegriffen werden, die sich inhaltlich langsam vor dem Auge des Betrachters verschieben und in ihrer Klarheit verschwimmen, wird das Publikum auf eine Art mentale Erfahrungsreise mitgenommen. Und die findet ihren Höhepunkt hinter einem langen schmalen Tisch.

Projektionen ohne Beamer

Lange steht dieser neben weiteren Utensilien unbeachtet an der Seite. Dann plötzlich schleppen die Tänzer ihn und sechs Hocker dazu auf die Bühne. Das halbe Duzend setzt sich und zaubert auf die Schnelle ein Tableau vivant des letzten Abendmahls herbei. Was folgt ist ein herausforderndes Vexierspiel emotionaler Überschreibung in Slow Motion. Die Gemütsbewegung der Personenkonstellation, die da Vincis „Abendmahl“ (klebt hinten an der Wand) kopiert, nimmt fast unmerklich und ganz allmählich Befindlichkeitsmuster von heute an. Eindrücke von Stammtischgesellen oder in der Kantine diskutierenden Studenten schieben sich wie Folien über das ursprünglich sakrale Bild. Eine Art Projektionsspektakel – live und ohne Beamer. Choreografiehandwerk at its best und eine unglaublich starke Atmosphäre: Das ist hier der Clou.

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