„Allee der Kosmonauten“ von Sasha Waltz. Tanz: Ensemble.

„Allee der Kosmonauten“ von Sasha Waltz. Tanz: Ensemble.

Bizarre Momentaufnahmen einer WG

Sasha Waltz' „Allee der Kosmonauten“ amüsiert im Radialsystem

Die Bezirke Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf verbindet sie: die Allee der Kosmonauten. Was sich in ihren Elfgeschossern in Plattenbauweise abspielen könnte, das hat Sasha Waltz 1996 über Interviews vor Ort in Erfahrung gebracht.

Berlin, 31/01/2017

Die Bezirke Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf verbindet sie: die Allee der Kosmonauten. Sie wurde ab den 1970ern angelegt, ist fast fünfeinhalb Kilometer lang und zu Teilen flankiert von Elfgeschossern in Plattenbauweise. Was sich in ihnen und auch anderen Großbausiedlungen mit ihrer Wohnenge abspielen könnte, das hat Sasha Waltz 1996 über Interviews vor Ort in Erfahrung gebracht. Sicher nicht eins zu eins umgesetzt, aber inspiriert vom Gehörten entstand der Einstünder „Allee der Kosmonauten“, mit dem zugleich ein neuer Spielort eröffnet und bald zu einer ersten Adresse wurde: die Sophiensaele. Gut 20 Jahre nach dem sensationellen Erfolg dieser Produktion erobert sie nun auch das Radialsystem V, den angestammten Auftrittsort von Sasha Waltz & Guests.

Das Verblüffende: Vier der sechs an der Kreation beteiligten Tänzer stehen wieder auf der Szene, ergänzt durch zwei „Neue“, die agieren, als wären sie Teil der Urbesetzung. Dramaturg Jochen Sandig hat so geschickt wie oft süffisant verdichtet, wie Menschen mit- und nebeneinander oder auch aneinander vorbei leben, was dieses Leben an kleinen und größeren Misslichkeiten, Missverständnissen und Missverhalten mit sich bringt. Amüsant ist das zu sehen, manchmal auch eher traurig, und stets vehement akrobatisch angelegt.

Viel Szenografie braucht es nicht, wenn Körper sprechen. Eine Zimmerwand mit Monitoren, ein Sofa als umkämpften Wohlfühlhort und ein Tisch lassen Raum für die Aktion. Die startet in der Stille: Auf einem stehenden Brett sitzt, nicht eben gemütlich, hoch oben Luc Dunberry, versucht eine Plastiktüte aufzublasen, kippt dann urplötzlich nach vorn ab, brabbelt und verfällt in mechanische Zuckbewegung. Hinter dem Sofa taucht Juan Kruz Días de Garaio Esnaola auf, erklimmt abenteuerlich artistisch das Sitzmöbel, bis Takako Suzuki, zur dicken Alten ausgestopft und wohl seine Frau, darauf Zeitung liest, ehe sie offenen Mundes einschläft. Lärmend stößt als Störenfried mit Zöpfen und jüngste Generation Zaratiana Randrianantenaina zu, legt sich auf die Alten, wird fortgeschubst. Dunberrys laute Musik aus dem Kofferradio im Nebenraum lässt den Alten zur Tat schreiten, was in einer Prügelei endet und beiden „Fuck you“ abnötigt.

Absurd geht es bei den Marionetten und Zerrbildern gemeinsamen Wohnens weiter. Der Tisch wächst, nackte Menschenbeine werden sichtbar; die Lesenden wachsen pantomimisch mit. Am Ende der Episode lehnt die Tischplatte an der Wand, obenauf dirigiert der Alte, weit unten ragen fremde Beine hervor. Immer wieder geraten die drei Paare miteinander oder auch die Generationen in Streit, der bisweilen brutal und gewalttätig ausgetragen wird. So als Dunberry mit seiner Freundin Agelina Gouvi, schon in Unterwäsche, in ein Freilstilringen ausbricht, während Nicola Mascia, zweiter Vertreter der Jugend, Ralf Bursys Schlager „Kalte Augen“ intoniert. Im Sex finden sich dann die Kampfhähne, und auch die beiden Jungen flirten rüde. Erst als der Alte den Teenager zu Boden geschlagen hat und den Schlips richtet, kehrt für einen Augenblick Frieden ein. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Als aus menschlichen Stützen mit Brettern ein Regal gebildet wird, kampeln die Alten um das rechte Anordnen von Nippes darauf. Die Szenen mit den Brettern in ihrer Bizarrerie und artistischen Brillanz gehören zu den Höhepunkten einer mit Einfällen gespickten Inszenierung, die den Tänzern geschwinde Reaktion und perfektes Eingespieltsein abverlangt.

Über welche Ausdruckskraft Esnaola verfügt, etwa wenn er krumm wie eine Witzfigur umherschlurft und dennoch ein ausgepichter Haustyrann bleibt, ist so singulär wie sein Akkordeonspiel, ob Walzer, Marsch oder Tango, das die Mitbewohner allmählich zum Tanzen bringt. Nur seine Frau beschleichen erotische Gedanken in ihrer Einsamkeit. Denn um Alleinsein in der Gemeinschaft geht es, hierfür findet Sasha Waltz in sprühender Erfindung ein ums andere Bild. DDR-Schlager in ihrer Biederkeit mischen sich wiederholt in die Kompositionen von Lars Rudolph, auch Fetzen von Mozart und Smetana klingen an. Nichts aber hat in dieser geistigen Einöde, dieser Existenz ohne jedwede Ambition Bestand. Momentaufnahmen einer in ihrer Sinnfreiheit ertappten Wohngemeinschaft enden um das Sofa herum das Bewegungsgetöse. Sasha Waltz ist damit ein Repertoirestück gelungen, das in seiner Dichte und Stringenz einzigartig ist und ohne Zeitbezug funktioniert, selbst auf der größeren Bühne des Radialsystems.

 

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