„Anna Karenina“ von John Neumeier. Tanz: Anna Laudere, Edvin Revazov.

„Anna Karenina“ von John Neumeier. Tanz: Anna Laudere, Edvin Revazov.

Eine heutige Anna Karenina

John Neumeier eröffnet die 43. Hamburger Ballett-Tage mit einer großartigen Uraufführung

Neumeiers „Anna Karenina“ nach Leo Tolstois Roman ist ein Meisterwerk geworden. Obwohl man sich daran gewöhnen muss, dass das Ballett nicht im 19. Jahrhundert, sondern in heutiger Zeit spielt.

Hamburg, 05/07/2017

Erinnern Sie sich an Gigi Hyatt? Sie war eine der reizvollsten Ersten Solistinnen, die das Hamburg Ballett unter John Neumeier je hatte. Spontan, etwas kindlich und stilistisch perfekt. Als sie und der Tänzer Janusz Mazón ein Baby bekamen, zogen sie weg in die USA und verschwanden aus den Ballett-Schlagzeilen.

Doch jetzt ist aus dem einstigen Baby eine junge Tänzerin geworden, Emilie Mazón, die ähnlich wie ihre Mama aussieht. Ihre Eltern sind zurück in Hamburg, Gigi Hyatt wurde stellvertretende Direktorin von Neumeiers Ballettschule, sie und ihr Mann unterrichten beide. Und schon tanzt Emilie in John Neumeiers neuem Ballett „Anna Karenina“ die wichtige Rolle der Kitty – und hat sich bereits in die Herzen des Publikums geschlichen.

Neumeiers „Anna Karenina“ nach Leo Tolstois Roman (1877/78) ist ein Meisterwerk geworden. Ein Meisterwerk, das sich bei einmaligem Sehen noch nicht in allen Details erschließt und sogar einige Schwachstellen aufweist. Aber es ist mit Hunderten von Finessen choreografiert, weitgehend in neoklassischem Stil, die Frauen oft auf Spitze. Getanzt wird auf allen Ebenen hinreißend.

Anna Laudere in der Titelrolle wandelt sich von der eleganten Prominenten-Frau zur lebenssprühenden Geliebten des Grafen Wronski, von Edvin Revazov als eleganter, sportlicher, liebenswürdiger Mensch dargestellt. Ihre Pas de deux zur Zeit ihres Kennenlernens bilden die absoluten Höhepunkte in dem an Dramatik so reichen Ballett. Lang und ausholend sind diese Pas de deux, lianenhaft verschlungen und trotzdem durchsichtig klar. Und je nach Situation neugierig, liebestoll oder zärtlich.

Doch die beiden Liebenden werden zunehmend von Schuldgefühlen heimgesucht – bei Neumeier verkörpert durch einen Muschik, einen armen Bauern, den es in die Stadt zur Müllabfuhr verschlagen hat. Wie ein böser Dämon taucht der schwarzkrause Karen Azatyan in seinem orangen Übergewand immer wieder auf. In Wirklichkeit oder in ganz schlimmen Albträumen, die sowohl Wronski als auch Anna heimsuchen. Sie wird im Traum vom Muschik sogar vergewaltigt.

Wie hat John Neumeier Tolstois 1000-seitigen „Anna-Karenina“-Roman in Tanz umgesetzt? Mit seiner Vielzahl von Personen und Handlungssträngen wäre der Stoff wohl besser für eine Fernsehserie geeignet als für ein Ballett, scherzt Neumeier in einem Beitrag für das Programmheft zu den 43. Hamburger Ballett-Tagen. Im Untertitel steht einschränkend: „Inspiriert von Leo Tolstoi.“ Ist ja klar, dass nur ein Bruchteil des Buchinhalts auf die Bühne gebracht werden kann, sowohl handlungsmäßig wie atmosphärisch.

Ein wesentlicher, zunächst befremdlicher Eingriff besteht darin, dass Neumeier die Handlung aus dem zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart verlegt hat, Handys inklusive. Zwei realistisch wirkende Szenen eröffnen das dreistündige Ballett. Aus Karenin (Ivan Urban), bei Tolstoi ein hoher Beamter, ist ein abgebrühter Starpolitiker auf Wahltournee geworden. Er lässt sich von seinen Fans feiern und punktet mit seiner heilen Familie, bestehend aus Frau Anna und Sohn Serjoscha (Marià Huguet). Im zweiten Bild lernt man Graf und Oberst Wronski im roten Sportleibchen kennen, wie er mit Regimentsathleten trainiert.

Es sind etwas plakative, kalt lassende Bilder. Mehr Emotionen lösen die folgenden Szenen aus. Dabei gewöhnt man sich daran, dass sie in der Gegenwart spielen. Das Ehedrama zwischen dem Schürzenjäger Stiwa (Dario Franconi) und Dolly (Patricia Friza), Mutter seiner sechs Kinder, findet im öffentlichen Raum statt. Zum großen Fest, bei dem Kitty auf eine Verlobung mit Wronski hofft, rücken die Mädchen nicht in schweren Festroben, sondern in luftigen Cocktail-Kleidchen an. Und das berühmte Pferderennen, bei dem Anna nach einem Sturz des Geliebten sich ungewollt-gewollt zu ihrer Affäre bekennt (sie ist bereits schwanger von Wronski), hat sich zu einem Lacrosse-Tournier gewandelt. Lacrosse, nebenbei gesagt, ist ein brutales Eishockey-ähnliches Spiel mit Schlägern und Hartgummibällen. Wronski wird dabei schwer zusammengeschlagen.

All diese Schauplätze hat Neumeier genau studiert, was sich sowohl in der Haltung der hoch engagierten Tänzerinnen und Tänzer als auch in der Ausstattung zeigt. Das Bühnenbild, wie so oft von Neumeier persönlich entworfen, ist von kühler Ästhetik. Durch verschiebbare weiße Wände samt Türen gleitet man von einem Schauplatz zum nächsten. Auch für die Kostüme zeichnet Neumeier selbst. Mit Ausnahme der Kleidung von Anna Laudere. Sie trägt fließende Roben aus kostbaren Stoffen, raffiniert einfach geschnitten, kreiert von Albert Kriemler (Akris).

Simon Hewett führt das Philharmonische Staatsorchester Hamburg begeisternd über den Musikteppich. Der besteht aus Stücken von Peter Tschaikowski, vor allem Sätzen aus Suiten, konterkariert durch schwere Disharmonien von Alfred Schnittke. Dazwischen hört man ab Tonträger den Sänger und Songwriter Cat Stevens alias Yusuf Islam, mit Liedern wie „Moonshadow“.

Was haben solche Folksongs in „Anna Karenina“ verloren? Sie erklingen dann, wenn Lewin (Aleix Martínez) auftritt, der Gutsbesitzer, der von Kitty zunächst als Ehemann abgewiesen, später nach schweren Depressionen aber erhört wird. Lewin tanzt ganz anders als die andern, fulminant und überdreht. Einmal führt er seine Landsleute zu einem schmissigen Ernte-Reigen an, zur Freude des Publikums. Trotzdem: Es irritiert, dass Lewin sich in Neumeiers Choreografie oft wie ein Clown aufführt. Eine Art Puck oder Gnom. Bei Tolstoi ist Lewin ein schwermütiger und gleichzeitig revolutionärer Gutsbesitzer, der seine Bauern von der Leibeigenschaft befreit.

Wer den Roman einigermaßen kennt, kann im ersten Teil des Balletts etliche Szenen daraus wieder erkennen. Im zweiten Teil, beginnend mit der Idylle von Wronski und Anna in Italien, endend mit ihrem Selbstmord und seiner Verzweiflung, vermischen sich die Motive. Die Handlungsstränge durchkreuzen einander auf einer symbolistisch-surrealen Ebene. Die strenge Gräfin Iwanowa (Mayo Arii), ehemals Assistentin des Politikers, ergreift von Karenin Besitz und verhindert Anna den Zugang zu ihrem Sohn Serjoscha, der hier schon ein großer Junge ist und die Mutter vermisst.

Derweil fragt man sich, wo eigentlich die kleine Annina, das Kind von Wronski und Anna, geblieben ist. Die Geburt war dramatisch, eine Szene im Spital mit vier gespenstischen Hebammen brachial, wie von Mats Ek erfunden. Warum verzehrt sich Anna später in ihrer Liebe zum abwesenden Sohn, während sie mit ihrer Tochter offenbar nichts anfangen kann? Diese Frage stellt man sich nicht nur bei John Neumeier, sondern auch bei zwei früheren „Anna-Karenina“-Balletten von Christian Spuck (Zürich) und Alexei Ratmansky (St. Petersburg). Aber eigentlich ist ein anderer schuld, dass man so wenig von Annina erfährt: nämlich ihr Erfinder Leo Tolstoi!

Am Ende besucht Anna eine Opernaufführung von „Eugen Onegin“ in Moskau samt anschließendem Empfang. Sie hat Drogen genommen. In ihrer Wahrnehmung bewegt sich alles durcheinander. Wronski schäkert mit der Gräfin Sorokina (Greta Jörgens), die Gesellschaft wendet ihr den Rücken zu. Verwandte und Bekannte geistern herum, einmal mehr taucht der Muschik auf. Anna fühlt sich total allein, isoliert, krank. Sie begeht Selbstmord. Doch stürzt sie sich nicht vor den Zug wie bei Tolstoi, sondern versinkt durch eine Lücke im Bühnenboden. Einfach so.

Uraufführung am 02.07.2017 in der Staatsoper Hamburg.

 

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