„Edge of Reason“ von Chidozie Nzerems.

„Edge of Reason“ von Chidozie Nzerems.

Kaum Experimente

Tanzabende der besonderen Art: Junge ChoreografInnen

Ptah, der ägyptische Gott der Handwerker und Künstler, zeigt sich gnädig: Beim Publikum sind diese Abende ein Renner - und manchmal ein Fest. Ein Bericht zu den Tanzabenden in Essen, Münster, Osnabrück und Düsseldorf.

Essen/ Osnabrück/ Münster/ Düsseldorf, 06/07/2017

Wenn die Spielzeit sich zum Ende neigt, steht in vielen deutschen Theatern seit einigen Jahren ein Tanzabend der besonderen Art auf dem Programm: „Ptah“ heißt er in Essen, „dance lab“ in Münster, „Open Windows“ in Osnabrück und „Young Moves“ beim Ballett am Rhein. Ensemblemitglieder der jeweiligen Kompanie präsentieren sich als ChoreografInnen kurzer Stücke, getanzt von ihren KollegInnen. Vor allem geht es bei diesem Format um die Erprobung von Raum, Tempo, Klang und Themen, die es in individuell gewählten bewegten Bildern, Konstellationen und Tanzstilen zu vermitteln gilt.

Zumeist als „work in progress“ deklariert, bietet sich idealerweise der Ballettsaal als Aufführungsort an, wohin Hans Henning Paar in Münster auch tatsächlich immer fürs „dance lab“ einlädt. Das intime Ambiente von Osnabrücks „emma-theater“ und Essens „Grillo-Theater“ bietet mehr Distanz und bessere technische Möglichkeiten. Dem „Ernstfall“ mussten und durften sich die ChoreografInnen des Ballett am Rhein diesmal auf der riesigen Bühne des Düsseldorfer Opernhauses stellen. Auch haben sie selbst durch ihre tänzerische Arbeit Erfahrungen gesammelt, wie große ChoreografInnen probieren und strukturieren. Aber immer wieder zeigt sich: Wenige haben wirklich kreatives Potential. Experimente sind, anders als in der freien Szene, in diesem Rahmen eher die Ausnahme. Entertainment und der Ausdruck individueller Gefühle und Sichtweisen sind Trumpf. Allerdings stellt die Technik - im weitesten Sinn - den JungchoreografInnen oft ein Bein oder überfordert sie einfach. Dennoch: Ptah, der ägyptische Gott der Handwerker und Künstler, zeigt sich gnädig: Beim Publikum sind diese Abende ein Renner - und manchmal ein Fest.

Vorteil „Material“

Größter Vorteil für die „Neulinge“ ist mit Sicherheit ihre Vertrautheit mit dem „Material“. Sie kennen die Techniken, Kompetenzen und Persönlichkeiten der Tanzenden. So wird die tänzerische Qualität mitunter zum Zünglein an der Waage, wenn ChoreografInnen bestimmten Tänzern einen Part wortwörtlich auf den Leib schreiben - wie etwa Chidozie Nzerem (Ballett am Rhein) im zweiten Teil von „Edge of Reason“, wo die stupende Präzision, Technik und erotische Aura von Marlúcia Amaral, mit unbestechlicher Eleganz und Zuverlässigkeit augenzwinkernd auf Händen getragen von Marcos Menha, betört. Da wird Tanz zum Fest. Auch Ayaka Kameis „Get Over“ in Osnabrück gewinnt durch Keith Chin Profil. Heikel kann es allerdings werden, wenn ein Tänzer ein Solo für sich selbst choreografiert - wie Qingbin Meng mit „M. Selbst“ in Essen. Das kam wie ein „Vortanzen“ für ein Engagement oder eine Aufnahmeprüfung über.

Das Thema

Am leichtesten scheinen sich viele mit dem Thema zu tun, das sie in Bewegung umzusetzen versuchen. Hierbei spiegelt sich immer wieder die globale Zusammensetzung unserer Kompanien in Deutschland. So fokussieren die Koreanerin So-Yeon Kim (Ballett am Rhein) in „49“ und die Japanerin Kana Mabuchi (TanzTheater Münster) in „Dear Freedom ... Dear Memories“ auf ihren Zwiespalt zwischen der fernöstlichen Heimat und dem europäischen Lebensumfeld. Kim inszeniert ein traditionelles 49-tägiges Trauerritual (mit Yuko Kato als anrührender Witwe, Camille Andriot als abseits stehender Tochter). Mabuchi findet ein traumhaft schönes Bild für ihre in Europa neu gewonnene Freiheit, indem sie Aka Nakanome den bunten Kimono im Sprung wie Schmetterlingsflügel ausbreiten lässt. Dem expressionistischen Erbe verpflichtet überzeugt Melanie López López' „Closer“ in Münster für drei Frauen mehr als das thematisch nahe „Philia“ für vier Freundinnen von Julia Schalitz in Essen.

Der Amerikaner Keelan Whitmore (Münster) unternimmt den mutigen Versuch, eine „Minstral Show“ - in denen in den USA im 19. Jahrhundert Weiße als Clowns mit schwarzgefärbten Gesichtern stereotype Ansichten über schwarze Sklaven parodierten - als Tanzpantomime mit einem Schauspieler als Erzähler zu inszenieren, um auf heutigen weltweiten Rassismus zu verweisen. Russische Zirkusszenen, von dem Ukrainer Igor Volkovskyy (Aalto-Ballett Essen) als schmissiger Rausschmeißer gedacht, erfüllten nicht ganz die Erwartungen. Wie schwierig Slapstick, artistischer Witz und Komik auf die Tanzbühne zu bringen sind, zeigten auch die Finales in Osnabrück („Silver Lining“ von Cristina Commisso) und Düsseldorf („East Coasting“ von Michael Foster).

Tanz, die Darstellungskunst ohne Worte, kommuniziert nicht von ungefähr am besten, intensivsten und aktuellsten mit den bildenden Künsten. Walter Padao vervollkommnet sein Bühnenbild zu Wun Sze Chans „No Destination“ aus langen schmalen Vorhängen tatsächlich live mit gemalten koreanischen Schriftzeichen und abstrakten Mustern. Eigens komponierte Musik der Düsseldorfer Gruppe Leopath und die fantasievoll theatralen Kostüme von Hélène Vergnes unterstreichen die Gruppenbewegungen ästhetisch fein, sodass ein staunenswertes „Gesamtkunstwerk“ gelungen ist. Nach diesem Auftakt bei der zweiten Folge der „Plattform Choreografie“ des Ballett am Rhein lag die Messlatte des Abends sehr hoch.

Die Lehrmeister

Wie in keiner anderen Kompanie in NRW ist das Potenzial des Ballett am Rhein derart groß und die Unterstützung derart qualitätsvoll und generös. Aber auch mit Martin Schläpfer als künstlerischem Leiter, der ja selbst den Schritt vom grandiosen Tänzer zum Weltklassechoreografen schaffte, bleiben Entdeckungen und Entwicklungen wie die von Wun Sze Chan (es ist ihre zweite Choreografie) eine Ausnahme. Fragwürdig wird's, wenn Handschrift oder „Belehrung“ durch das Leitungsteam einer Kompanie durchscheinen. Durchzieht in Essen Ben Van Cauwenberghs Maxime vom „Entertainment“ wie ein roter Faden das Programm, so entsteht in Osnabrück gar der Eindruck, dass hier nach einer vorgegebenen Schablone eine Hausaufgabe brav erledigt wurde: hell und dunkel, lange Pausen, düstere Visionen. Sehr ermüdend.

So zeigt sich immer wieder an diesen kleinen Nachschlägen zu den offiziellen Tanzpremieren, wie sehr Choreografen von ihrem Umfeld profitieren oder an ihm scheitern können. Talent und Durchsetzungsvermögen sind unverzichtbar.

 

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