Nicht für die Ewigkeit
Neuerscheinung „Oskar Schlemmer und der Tanz“ von Frank-Manuel Peter
Nele Lipps Biografie des ‚Roten Tänzers‘ Jean Weidt
Wer Jean Weidt noch persönlich gekannt hat, erinnert sich an einen liebenswürdig jovialen älteren, später alten Herrn mit samtig heiserer Stimme und gefühlt riesigen Händen, in denen die Hand des Begrüßten weich verschwand. Und an eine hagere Gestalt mit holzschnittartig markantem Gesicht, aus dem eine gewaltige Hakennase hervorstach. Dass das Leben nicht nur gut zu ihm war und ihn widerständig geformt hat, ahnte man zumindest. Seine Biografie belegt das auf so einprägsame wie tragische Weise. Nach den beiden noch zu DDR-Zeiten erschienenen Bänden „Der Rote Tänzer“ von 1968 und „Auf der großen Straße. Jean Weidts Erinnerungen“ von 1984 legt, gut drei Jahrzehnte später, Nele Lipp eine rund 200 Seiten zählende Biografie mit ausführlichem Anhang vor, die einen fast Vergessenen vor dem Vergessen bewahren möchte. Dabei hat er durchaus verdient, als Teil einer bewegten Tanzgeschichte in bewegter Zeit erinnert zu werden.
Überaus detailliert zeichnet Lipp die Stationen eines Kämpfers unter den Tänzern seiner Generation nach: von der Geburt 1904, im selben Jahr wie George Balanchine, als Hamburger Arbeitersohn mit eher freudloser Perspektive über den Aufstieg eines mit unbeugsamem Willen Gesegneten bis zur geachteten Stellung in der DDR, wo er 1988 hochbetagt und entsprechend gewürdigt starb. Dazwischen lag ein Leben voller Entbehrungen für den Tanz. Mit harter Arbeit verdiente er sich das Geld für eine Tanzausbildung, gründete eigene Gruppen, gestaltete Themen aus seinem Lebensumfeld. Bis zum Ende setzte er sich in seinen Choreografien für Arme, Entrechtete, Deklassierte ein, er, der sich früh zum Kommunismus bekannte, verstanden als ein Weg zur Gleichheit aller Menschen, nicht als eine dogmatische Ideologie. Tanz war für ihn ein Mittel zum Kampf gegen Ausbeutung, keinesfalls nur Präsentation schöner Form. Dabei erfuhr er durchaus Anerkennung Prominenter wie Mary Wigman, Erwin Piscator, Klaus Mann. In Berlin formierte er seine „Roten Tänzer“, tanzte mit ihnen gegen den Faschismus an, erzielte bei der „Olympiade des revolutionären Theaters“ 1933 in Moskau unerwartet einen Misserfolg, floh schließlich vor der braunen Gefahr über London nach Paris. Dort sollte er, trotz anfänglicher Widerstände, seine produktivste Zeit haben. Noch Jahrzehnte später beriefen sich moderne Tänzer und Choreografen aus Frankreich auf ihn, als man ihn in Deutschland längst abgeschrieben hatte.
Seinen größten Erfolg landete Weidt, nach Aufenthalten einer Emigration in Moskau, Prag, nochmals Paris, dann einer Internierung in Algerien und Italien und der Rückkehr nach Paris, 1947 beim Internationalen Choreografischen Wettbewerb in Kopenhagen: Dort gewann er mit der Groteskmaske einsetzenden Tanzpantomime „Die Zelle“ den ersten Preis. Anregen ließ er sich dazu von einem frühen Brechtstück, mit dem Weidt sich indes kritisch auseinandersetzte. In Paris vermochte er nach dem Krieg nicht mehr Fuß zu fassen, übersiedelte auf Einladung in die DDR, wo er, nach anfänglicher Hofierung als Vorzeige-Emigrant mit konsequenter Gesinnung, ebenfalls Probleme bekam. Erst in der Komischen Oper Berlin, die ihn und seine Gruppe junger Tänzer aufnahm und in Tom Schillings Choreografien einbezog, fand er so etwas wie Ruhe nach dem Sturm und späte Ehrungen.
Woran es lag, dass Weidt trotz bester Kontakte weder in Paris noch in der DDR künstlerisch aufsteigen konnte, ist strittig. Möglicherweise waren seine zahlreichen, aus ehrlichem Herzen entstandenen Vorkriegsstücke in jener Ära verhaftet und nach 1945 nicht mehr zeitgemäß, als in der Sehnsucht nach Frieden und Schönheit das Ballett wieder Einzug in die Theater hielt. Nele Lipps detailreiche, jedoch nicht sorgsam genug redigierte Publikation mit ihren vielen erläuternden Fußnoten zu Personen und Ereignissen setzt dem „Kumpel Weidt“, als den ihn dankbar seine Schüler empfanden, ein Denkmal.
Einige Unkorrektheiten haben sich eingeschlichen. So schreibt die Autorin von Erich (S. 12) statt Wilhelm Pieck, führt den Bruder des Komponisten Hanns Eisler als Georg (S. 172) statt Gerhart ein; Reinisch ist kein Pseudonym (S. 204) von Marion Kant, sondern ihr vormalig verheirateter Name. Als Weidt 1950 über Nacht als Leiter des Dramatischen Balletts in Berlin abgesetzt wurde, geschah das, so überliefert, wegen persönlicher Verfehlungen innerhalb des Ensembles. Ob dabei auch sein missliebig gewordener choreografischer Stil eine Rolle gespielt hat, müssten gründlichere Recherchen klären: durch Einsicht in seine Stasi-Akte und etwa in das Parteiarchiv. Die „Stunde des Tanzes“ wurde in Berlin bereits 1937 initiiert. In den ersten Ausgaben 1956 taucht der Name Jean Weidt nicht auf, 1958 und 1959 ist nachweislich Olinto Lovaél ihr künstlerischer Leiter; 1964 nimmt Weidt mit seiner Gruppe junger Tänzer teil, führt später das Format als neuer künstlerischer Leiter auf lange zu großer Popularität.
Anerkennenswert bleiben sein unbeirrter Einsatz für Schwache und Opfer, sein oft unbequemes Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit, sein pädagogisches Engagement für Jugendliche besonders aus armen Verhältnissen. Dieses Leben nachgezeichnet zu haben, ist, bei allen Einschränkungen, Verdienst von Nele Lipp.
Nele Lipp: Jean Weidt. Idealist und Surrealist der europäischen Tanzszene, Athena-Verlag 2016, 258 S., broschiert, ISBN 978-3-89896-659-7, € 24,50
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