Hommage an ein Genie
Ein Podcast und ein Roman für einen der bedeutendsten Choreografen des 20. Jahrhunderts: John Cranko
Es lag nahe, dass es zu der historischen Jubiläumssaison im Gedenken an den legendären Choreografen und Direktor des Stuttgarter Balletts auch ein Buch geben musste. Im Oktober ist es jetzt erschienen: John Cranko. Tanzvisionär heißt der großformatige Band, in dem 156 Schwarz-Weiß-Fotos aus den 1960er und 70er Jahren und zuvor aus Crankos Londoner Jahren versammelt sind, kombiniert mit 20 Protokollen von Gesprächen mit Weggefährten Crankos. Die Mehrzahl von ihnen wurde erstellt von Petra Olschowski, zwischen 1996 und 2002 Redakteurin bei der Stuttgarter Zeitung und seit 2022 Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg, sowie deren Referentin, der Journalistin Julia Lutzeyer. Ergänzt werden diese Texte durch das letzte Interview Crankos, das Hartmut Regitz im Mai 1973 mit ihm führte, sowie durch mehrere Artikel aus der Feder der Kulturjournalistin Angela Reinhardt, darunter ein Prolog mit dem Titel „Vermächtnis: Was bleibt von John Cranko?“ sowie am Schluss eine umfangreiche Biografie. Die redaktionelle Betreuung, die auch ein ausführliches Werkverzeichnis umfasst, lag bei Vivian Arnold, der Direktorin für Kommunikation und Dramaturgie des Stuttgarter Balletts.
Die meisten dieser Texte sind schon zwischen 2006 und 2011 entstanden, zu einer Zeit also, in der wichtige Weggefährten Crankos noch lebten, die heute nicht mehr unter uns sind. Clement Crisp zum Beispiel (1926-2022), der renommierte britische Ballettkritiker; Richard Cragun (1944-2012), der phänomenale Tänzer und langjährige Partner von Marcia Haydée; Fritz Höver (1921-2015), der 1958 die heute leider aufgelöste Noverre-Gesellschaft gründete, bei deren alljährlichen Matineen die Mitglieder der Kompanie ihre choreografischen Fähigkeiten erkunden konnten; Jan Stripling (1941-2017) und Heinz Clauss (1935-2008), die in Stuttgart große Hauptrollen tanzten. 2014 konnte Angela Reinhardt sogar den einzigen langjährigen Lebenspartner John Crankos ausfindig machen und mit ihm sprechen: Dirk Ottenbacher (1940-2022).
Über diese bereits Verstorbenen hinaus umfassen die Erinnerungstexte aus den Jahren 2006 bis 2011 bekannte Namen: die Tänzerinnen Marcia Haydée und Birgit Keil; die Tänzer Vladimir Klos, Egon Madsen und Ray Barra; den Choreografen Jiři Kylián; die Tänzerin und Choreologin Georgette Tsinguiridis; die Bühnen- und Kostümbildner*innen Jürgen Rose und Dorothée Zippel. Neueren Datums sind nur wenige Texte, allesamt von Angela Reinhardt. Zum Beispiel in der Mitte des Buches ein sehr ausführliches Interview aus 2022 mit Dieter Graefe (geb. 1939, Crankos Privatsekretär und Erbe) und Reid Anderson, (geb. 1949), der zwischen 1969 und 1985 in der Kompanie tanzte und ihr von 1996 bis 2018 als Ballett-Intendant vorstand. Sodann auch die Erinnerungen des inzwischen fast 100-jährigen Ballettmeisters und Choreografen Peter Wright (geb. 1926), die Angela Reinhardt 2015 und 2023 aufzeichnen konnte. Erst vor einem Jahr geführt wurde auch das Gespräch mit der Fotografin Gundel Kilian (ohne Autorenangabe).
Der einzige Originalbeitrag eines Cranko-Weggefährten in diesem Buch ist der von John Neumeier – eine schöne Geste. Cranko hatte Neumeier 1963 nach Stuttgart geholt, wo er bis 1969 tanzte, dann als Ballettdirektor nach Frankfurt ging und seit 1973 das Hamburg Ballett führt. Schon im ersten Satz betont Neumeier die Bedeutung, die Cranko für ihn hatte: „Die Zeit beim Stuttgarter Ballett ist eine der wichtigen Stationen auf meinem Lebensweg.“ Crankos Arbeit mit dem Stuttgarter Ballett bildete darüber hinaus die Wiege für viele namhafte Choreografen der neueren Zeit. Neben Neumeier und Jiři Kylián hat z.B. auch William Forsythe in Stuttgart seine ersten Gehversuche als Choreograf gemacht – von ihm gibt es leider keinen Beitrag in diesem Buch. Und so erscheint als einziges Manko an diesem optisch angenehm ruhig gestalteten Buch, dass man die Gelegenheit verpasst hat, die älteren Texte durch aktuelle Gespräche mit den noch lebenden Weggefährten zu ergänzen – viele von ihnen sind ja bereits hochbetagt. Es wäre spannend gewesen, ihren heutigen Blick auf diese für sie alle so prägenden Jahren zu kennen.
Und doch sagen auch die älteren Beiträge viel aus über das, was John Cranko und das Stuttgarter Ballett ausgemacht hat (und die Kompanie bis heute prägt). Über diese unvergleichliche Faszination, die im Wesentlichen darauf beruht, dass es im Ballett nicht nur auf eine blitzsaubere Technik, sondern vor allem auf die Persönlichkeit einer Tänzerin bzw. eines Tänzers ankommt, auf die Liebe und Hingabe bis zur Selbstentäußerung, ohne die jeder Tanz seelenlos wirkt. Man wünscht deshalb gerade den jüngeren Tänzer*innen-Generationen, dass sie sich dieses Buch zur Hand nehmen, um etwas zu erfahren über die Schultern, auf denen sie heute stehen. Ohne John Cranko wäre das Ballett in Deutschland niemals zu der Bedeutung erblüht, die ihm heute zu Recht zukommt.
Man wünscht dieses Buch aber auch allen Kulturschaffenden als Weihnachtsgabe. Weil es das Elementare des Künstlerischen in Worte fasst. Weil es klarmacht, worauf es im Tanz (und nicht nur da) ankommt. Weil es vor Augen führt, dass es ohne Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit, ohne Disziplin und Treue, ohne Verrücktheit und Kreativität keine Kunst geben kann. Man kann das kaum besser zusammenfassen als in der Antwort, die Cranko auf die letzte Frage von Hartmut Regitz in dem schon erwähnten letzten Interview aus 1973 gab. Ob er außerhalb des Stuttgarter Balletts etwas auf die Beine stellen wolle, fragt da Regitz. Und Cranko antwortet: „Ich will nicht tausend verschiedene Sachen gleichzeitig machen. Auch höre ich keine Sirenenstimme, die mich locken könnte. Wir sind glücklich hier. Der Compagnie geht’s gut. […] Doch jede Spielzeit gleicht im Grunde einem Schachspiel. Nie weiß man am Anfang, wie eine Partie endet. Ballett, das ist eine Arbeit über Jahre hinweg. Man muss eine Tradition, eine Arbeitsweise etablieren. Wenn man zu vielerlei macht, bringt das nichts. Dreizehn Jahre bin ich hier. Natürlich hat mich das dazwischen mal angekotzt, irgendwann wollte ich nach Los Angeles. Aber auf die Dauer hat sich mein Engagement hier ausgezahlt.“ Es sind Sätze, die jeder und jedem Kulturverantwortlichen ins Stammbuch geschrieben seien.
Autorinnen: Julia Lutzeyer, Petra Olschowski, Angela Reinhardt
Projektleitung und Redaktion: Vivien Arnold
288 Seiten, Henschel Verlag, Berlin
49 Euro
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments