Unter dem Motto „Bach bearbeitet“ präsentierte das Tübinger Bachfest 2018 dem Publikum ein vielfältiges und anspruchsvolles Programm aus rund 70 Veranstaltungen unterschiedlichster Formate von Konzerten, Aufführungen über Filmen bis hin zu Ausstellungen und Symposien mit regionalen und internationalen KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen. In diesem Rahmen durfte der Tanz als künstlerisch körperliche Ausdrucksform nicht fehlen.
Mit dem Kollaborationsprojekt „Bachläufe“ haben die Choreografin Katja Büchtemann, die Komponisten Achim Bornhöft und Marco Döttlinger, die Tänzerinnen Laura Börtlein, Fione Darby Rettenberger und Verena Wilhelm und die MusikerInnen Anna Lindenbaum, Leo Morello und Marci Sala des NAMES Ensemble aus Salzburg eine vielschichtige, zeitgenössische Hommage an Johann Sebastian Bach erschaffen.
„Bachläufe“ greift das Thema des Verschwindens mit seinen vielen Deutungsfacetten auf zweierlei Ebenen – tänzerisch und musikalisch – auf. Schon gleich zu Beginn des Stücks verschwinden die drei Tänzerinnen unter einem weißfarbigen Tuch, das die ganze Bühne bedeckt. Was übrig bleibt, sind die Formen ihrer auf dem Boden liegenden Körper, die sich unter dem dünnen Stoff abzeichneten – Bewegungslosigkeit und Stille für einen Moment.
Nun erklingt die Musik von Bach, erst langsam, dann schneller bewegen sich die verdeckten Tänzerinnen synchron, als eine Einheit - rechts, dann links und aufsitzen, so höre ich eine Stimme erst leise, dann immer lauter den Ton angebend, so lange bis eine der Tänzerinnen aus dem Dreiergespann herausbricht. Der choreografierte Tanz unter dem Tuch löst sich auf.
Eingeführt werden wir Zuschauer in eine von der Natur inspirierte Lebenswelt, in der drei Wesen miteinander interagieren, sich zurechtfinden, vereinen und wieder voneinander trennen. Sie stecken in hautengen Ganzkörperanzügen, aus der sich eine von ihnen bald befreien will. Es folgt ein langsamer, kraftvoller und intimer Akt aus einem Ziehen, Zupfen und Zerren am eigenen Leibe. Auch die anderen beiden beginnen sich aus ihrer weißen zweiten Hautschicht zu pellen.
Über den Tänzerinnen hängen drei große, blätterlose Baumzweige, sie reißen daran, solange bis sie die Äste, in denen auch Kanisterflaschen mit schwarzer Farbe befestigt sind, herunterziehen und fassen können. Über schmale Schläuche tropft die Farbe über Arme und Beine, Gesicht und Brustkorb. In Linientropfen verläuft sie über die nackte Haut, und wie eine Tarnung oder sogar eine Kriegsbemalung legt sie sich auf ihre Körper. Die MusikerInnen spielen nicht, es herrscht wieder Stille, nur die Äste hört man knacken während die Tänzerinnen zu eins mit dem Bühnensetting werden, umgeben von Zweigen und verdorrtem Gestrüpp. Sie sind auf der Lauer, ihre zielgerichten, schnell die Richtung verändernden Blicke und Bewegungen ließen uns Zuschauer die Gefahr spüren. Erst jetzt, viel später hatte sich die Letzte von ihrer zweiten Haut, die sie zerdrückt in ihrer Faust hielt, gelöst. Doch läuft sie verunsichert, mit ängstlichem Gesicht und angespanntem, in sich gekehrten Körper in großen Runden über die Bühne. Unsichtbar würde sie wohl gerne werden. Eine Atmosphäre der Spannung, durch zeitgenössische Klänge erzeugt, liegt im Raum. Die Bewegungen der Tänzerinnen wirken tierisch und doch zugleich wieder menschlich. Sie verkriechen sich schutzsuchend unter und zwischen den Baumästen oder verharren manchmal in Positionen, so dass sich richtige Landschaftsbilder ergeben, fast wie Rehe vereinzelt im Walde oder auf einer Lichtung stehend. Dann verblassen die Momente wieder. Das tänzerische Spiel mit dem Verschwinden entsteht aus Soli, aus innigen Duetten oder zu dritt in einem Pulk – mal gleichzeitig, mal hinter-, nebeneinander oder zeitversetzt. Bewegungsphrasen werden aufgenommen, um dann gleich wieder aufgelöst zu werden. Es ist ein Zusammenfinden und Wiederherausbrechen aus einer Gruppe, die den Einzelnen stärken und zugleich unterdrücken kann. So folgt auch das Spiel der Musik dem Prinzip des Verschwindens. Drei Originalsonaten Bachs wurden bearbeitet, elektronisch übermalt, überspült und damit verfremdet und aufgelöst. Sie wurden anders kombiniert und neu in Beziehung gesetzt. Den Tanz begleiten sie live als neue, zeitgenössische Komposition.
Ein authentisches Bild ergibt sich, als eine der Tänzerinnen mit einer Krone aus auf den Rücken befestigten grünen Blätterzweigen wie ein Pfau mit erhobenem Hauptes über die Bühne stolziert. Mit dynamischen, mächtigen Bewegungen präsentiert sie sich allen Zuschauenden, begleitet von lauten, sausenden und zupfenden Geräuschen. Versteckt hinter einem Blättergebüsch verfolgen die Blicke der anderen beiden ihren geheimnisvollen Pfauentanz.
Und plötzlich, ein Bruch – mit konventionelleren Gegebenheiten des Black-Box-artigen Settings. Die Tänzerinnen verlassen die Bühne und ziehen die schwarzen, blickdichten Moltonvorhänge auf, die bis zu diesem Zeitpunkt die großen Fenster der ehemaligen Maschinenhalle des Kulturwerks verdeckten. Was dadurch bei Tageslicht zum Vorschein kommt und sich noch deutlicher offenbart, ist nicht nur die industrielle Architektur sondern auch die Struktur einer Bühnenaufführung mit PerformerInnen, MusikerInnen und BesucherInnen. Doch nicht mehr die TänzerInnen, sondern die MusikerInnen – der Klarinettist, die Violinistin und der Cellist – stehen jetzt mitten auf der Bühne und geraten damit ins zentrale Blickfeld des Publikums. Nicht mehr das Tänzerische sondern die Bewegungen des Musizierens ziehen nun die Aufmerksamkeit auf sich. Die Tänzerinnen sind nicht ganz verschwunden, sondern über Tische direkt zu den Fenstern geklettert - jede an einer Glasscheibe klebend – bewegen sie sich kaum oder zeitlupenartig und verschmelzen mit der Musik, die den Ton angibt. Das Stück endet mit diesem anmutigen Fensterbild aus drei schwarzen, von Licht umgebenen Figuren.
Das Verschwinden an sich ist dem Tanz in seiner Flüchtigkeit von vornerein eingeschrieben. Und so bleibt die Erinnerung an den Tanz, die Musik und dem Ereignis als Aufführung.
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