Düstere Vereinsamung
„Témoin“ von Saïdo Lehlouh beim Hamburger Sommerfestival
Eines muss man ihm lassen, auch wenn man ihn manchmal prügeln möchte ob seiner fast schon unerträglichen Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit: Timing kann er, der András Siebold, Künstlerischer Leiter des Internationalen Sommerfestivals in der Hamburger Kampnagelfabrik. Auch wenn der Tanz im Vergleich zur Musik, für die Siebolds Herz erkennbar schlägt, eine kleinere Rolle spielt, so schafft er es doch immer wieder, tänzerische Leuchtfeuer in das Festivalprogramm einzubauen. Zum Beispiel „Streb Extreme Action“, eine Mischung aus Stuntshow, New-York-City-Avantgarde und Superheld*innencomic (Programmheft), oder den Besuch der Company Wayne McGregor. Anfang und Ende des Festivals sind also tänzerisch geprägt. Was Siebold flugs dazu veranlasst, sich als Retter des Tanzes in der Hansestadt aufzuspielen … Ach ja.
Gleich zu Beginn, gewissermaßen als Zugpferd für das knapp dreiwöchige Festival, steht die Malpaso Company aus Kuba, die erstmals in Europa gastiert. Im Gepäck hat sie einen dreiteiligen Abend mit zwei Europa- und einer Weltpremiere: „Triple Bill“. Dafür ließ sich sogar Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher aus dem Rathaus locken (sein Vorgänger Olaf Scholz glänzte auf Kampnagel konsequent mit Abwesenheit) und ebenso diverse Hamburger Kulturprominenz.
Angesichts der tropischen Hamburger Temperaturen müssen sich die Kubaner in der Hansestadt sehr heimisch gefühlt haben. Freundlicherweise verteilte die Kampnageladministration an der Garderobe pinkfarbene Fächer, die sicher nicht erst nach Abschluss des Festivals ein willkommenes Souvenir darstellen werden. Und so wedelte es in der K6 allerorten; zu Recht, denn gleich zu Beginn heizten die Mittelamerikaner nochmal kräftig einen drauf: „Indomitable Waltz“ heißt das erste Stück, choreografiert von Aszure Barton, gebürtige Kanadierin und mittlerweile auf den großen Bühnen der Welt zuhause. Fast eine halbe Stunde lang zelebrieren vier Tänzerinnen und vier Tänzer einen fast kultischen Tanz zu schmelzender Musik von Alexander Balanescu und Nils Frahm. Das ist ein einziges Gleiten und Fließen, ein Staunen und Atmen, ein katzenhaft geschmeidiges Miteinander und Füreinander und Umeinander und Gegeneinander. Grandios präsentiert von den exzellenten, erkennbar klassisch ausgebildeten und perfekt geschulten Tänzer*innen. Magisch!
Nach einer kurzen Umbaupause dann Teil 2: „24 Hours and a Dog“ von Osnel Delgado, dem Künstlerischen Leiter der Kompanie, zu Livemusik einer achtköpfigen, phänomenalen Jazzcombo, geleitet von Arturo O’Farrill am Flügel. In sieben kurzen Episoden (wobei die erste eine rein instrumentale ist) erzählen vier Tänzerinnen und fünf Tänzer, wie es sich so lebt als Hund. Hier sticht vor allem Osnel Delgado selbst heraus, der über eine begnadete Geschmeidigkeit und Körperbeherrschung verfügt. Es sind skizzenhafte Aperçus, die sich gleichen und auch wieder nicht. Ein Kommen und Gehen zwischen Solo, Ensemble, Pas de Deux und wiederum Ensemble, gekrönt von einer mitreißenden Adaptation des „Tanguano“ von Astor Piazzolla.
Und als sei das nicht schon kubanisches Feeling genug, gibt es nach der Pause noch „Liquidotopie“ von Cecilia Bengolea, eine 20-minütige Weltpremiere für fünf Tänzer und eine Tänzerin. Bengolea vermischt hier die religiösen Tänze der Yoruba, einer westafrikanischen Ethnie, die einen Großteil der nach Kuba verschleppten Sklaven im 19. Jahrhundert ausmacht, mit jamaikanischem Dancehall und moderner, eigener Bewegungssprache. Es ist ein Stück für fünf Männer und eine Frau – alle in weiße Körpertrikots gehüllt (für die man sich einen flexibleren Stoff wünscht, der weniger Falten wirft und sich geschmeidiger den Formen der Menschen anpasst), anfangs bis zur Nase hochgezogen, dann fällt bei den Männern die Maske. Erst sehr viel später zeigt auch die Frau ihr Antlitz. Bengolea hat hier ein geheimnisvolles, Weisheit und Naivität gleichermaßen atmendes Tableau entworfen, das den Zuschauer nie aus seiner magischen Sogkraft entlässt. Mittendrin Beatriz Garcia als eine Art Zentralfigur oder Gottheit, die sich der fünf Männer bedient, jedem einzelnen ihre Gunst erweist, bis am Schluss dann doch alle gemeinsam eine Art Überwesen mit tausenden von Armen und Beinen bilden, die sich ineinander verschlingen und gemeinsam in den Hintergrund wabern, bis das Licht endgültig erlischt. Die elektronische Musik stammt von DJ Joyvan und Cecilia Bangolea selbst, das raffinierte Lichtdesign für das ansonsten völlig kahle Bühnenrechteck von Manuel Da Silva. Ein grandioser Abschluss eines fulminanten Eröffnungsabends.
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