Marco Goeckes Vertrag beendet
Die Staatsoper Hannover trennt sich mit sofortiger Wirkung von ihrem Ballettdirektor
Am Anfang, lange bevor der Beifall rauscht und die Künstler sich im Licht der Scheinwerfer vor ihren Zuschauern verbeugen, ist Tanz ganz wenig. Da stehen sich zwei Menschen in der Stille gegenüber. Einer zeigt die Bewegung an. Der andere nimmt sie auf. Solange, bis ein Stück entstanden ist.
Wenn Marco Goecke choreografiert, sind sie zu dritt. Gustav, sein Dackel, ist immer dabei. Wer Goecke kennt, kennt Gustav. So wie man Choupette kennt, wenn man weiß, wer Karl Lagerfeld ist. Choupette ist Lagerfelds Hauskatze. Und wie der weltberühmte Modedesigner trägt auch Goecke meistens Sonnenbrille. Ihn störe das Licht der Neonröhren, sagt er. Man darf den Vergleich zwischen Lagerfeld und Goecke ziehen. Die beiden kennen sich und beide zeichnen gerne. Außerdem ist Goecke wie Lagerfeld ein berühmter Mann geworden. Was dieser in der Mode geschafft hat, ist Goecke im Tanz gelungen: einen unverwechselbaren, gültigen Stil von choreografierter Körperbewegung zu schaffen, die die Kunst des Balletts im 21. Jahrhundert erneuert hat. Der 46-Jährige wird daher heute zu den wichtigsten Künstlern der Gegenwart gezählt. Das von Goecke erschaffene Körperbild ist sofort erkennbar als sein Werk. Egal wo. Die Arme werden in einer nervös-fiebrigen Art um Kopf und Körper in Bewegung gebracht, dass man fast irre wird beim Zusehen. Gesicht und Beine tanzen hochgestochen, verzerrt und trippelnd mit, so dass ganze Seelenlandschaften assoziiert werden können.
Goeckes Tänzer, fast immer mit nacktem Oberkörper, in schwarzer langer Hose und manchmal einem Jackett, die Frauen gendermäßig ähnlich gekleidet, berühren – egal ob es sich um ein kurzes oder um ein abendfüllendes Stück Goeckes handelt. Denn man begegnet in seiner Kunst dem Menschen existenziell. Ihm. Dem Tänzer. Und sich selbst. Im Probensaal geben Tänzer von Goecke ihr Bestes. Denn Goecke gibt ihnen alles, was er geben kann. Und dabei beginnt er jedes Mal fast von vorne. Seine vielfach mit Preisen gewürdigte Arbeit verflüchtigt sich im Moment ihrer Entstehung. Nur die häufige Wiederholung im Körper eines anderen Menschen an einem Ort zu einer bestimmten Zeit machen sein Werk für kurze Zeit haltbar. „Das ist ein ganz hartes Brot, die Choreografie. Man gibt etwas, das es noch nicht gibt und das man nur mit Schritten versuchen kann“, sagt Goecke.
Weit über 60 Stücke hat der gebürtige Wuppertaler in den vergangenen 17 Jahren dem Publikum tatsächlich fast auf der ganzen Welt geschenkt. Anders lässt sich die Liste seiner Arbeit als international gefragter Choreograf in Stuttgart, München, Mannheim, Ludwigshafen, Osnabrück, Düsseldorf, Duisburg, Wolfsburg, Den Haag, Rotterdam, Helsinki, Maastricht, Zürich, Oslo, Monte Carlo, Tokio, Berlin, Montreal, Sao Paolo, Moskau oder New York nicht interpretieren. In den Niederlanden war er Hauschoreograf beim berühmten Scapino Ballet Rotterdam und ist nun seit langem beim renommierten Nederlands Dans Theater unter Vertrag. Fragt man ihn danach, spricht er davon, ganz schön viel auf dem Buckel zu haben. „Man muss Leidenschaft am Tanz haben und auch das Quäntchen Wahnsinn. Den haben wir alle, um das zu tun, was wir tun“. Auch so ein Satz von ihm.
„Goeckes Werk ist überall “, brachte es Tamas Detrich, neuer Intendant des Stuttgarter Balletts, unlängst auf den Punkt. Mit ihm hatte Goecke vor einem Jahr Streit, weil Detrich ihn nach dreizehn Jahren in seiner neuen Mannschaft nicht mehr als Hauschoreografen haben wollte. Goecke, emotional schwer getroffen und dann noch krank geworden, so wie man sich eben in den ungünstigen Momenten auch noch etwas einfängt und dann nicht losbekommt, ging an die Presse und sagte die geplante Uraufführung eines neuen Handlungsballetts über Franz Kafka für das Stuttgarter Ballett ab. Heute sind die Wogen wieder geglättet. Goecke schenkte seiner alten Kompanie vor wenigen Wochen mit „Almost Blue“ noch einmal ein grandioses Ballett, gleichwohl er ein paar Pistolenschüsse in die Choreografie für seine ehemalige Kompanie integrierte, und stürzte sich in weitere Aufträge.
Allein in Süddeutschland waren vor Kurzem zwei Uraufführungen von Goecke und eine Wiederaufnahme zu sehen. Fast „gefressen“ vor Begeisterung haben die Zuschauer im Münchner Gärtnerplatz-Theater Goeckes Neukreation „La Strada“, ein Ballett nach Federicos Fellinis gleichnamigem Drama. Am selben Abend tanzte Rosario Guerra, der Goeckes Ballett „Nijinski“ über den Jahrhunderttänzer Waslaw Nijinski für Gauthier Dance am Theaterhaus Stuttgart zum Welthit machte, das für ihn neu kreierte Solo „Infant Spirit“ – eine betörende, schmerzhaft schöne und tief menschliche Variation Goeckes über seine Erinnerungen an seine Jugend in Wuppertal, als er schüchtern und voller Sehnsucht nach einem anderen Leben die große Tanztheater-Lady Pina Bausch bewunderte und verehrte. Friedemann Vogel, eine von vielen Musen Goeckes, dem er 2008 „Orlando“ auf den schmalen Leib schrieb, tanzte schließlich beim Stuttgarter Ballett noch einmal „Fancy Goods“.
Wie fest Goecke in Stuttgart verankert bleibt, zeigt sein kürzlich unterschriebener Vertrag als Erster Residenzchoreograf von Gauthier Dance. Beide Seiten wollten die gelungene Zusammenarbeit intensivieren, heißt es. Bis 2020 wird er so weiterhin seine Schaffenskraft in der Landeshauptstadt entfalten. Das Staatstheater Nürnberg und das Nationaltheater Mannheim werden ebenfalls Werke von Goecke zeigen: „Nichts“ und „Thin Skin“. Parallel wird er sich aber auch von Stuttgart verabschieden. Goecke wird in einem Jahr seinen ersten Posten als Ballettdirektor an der Staatsoper Hannover antreten. Darauf möchte er sich intensiv vorbereiten. Mit Gustav im Schlepptau.
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