„Grandes Fugues“ von Anne Teresa de Keersmaeker

Klassikadaptionen, Zukunftsvisionen und eine Prise Humor

Erste Gastspiele beim 30. Festival Tanz im August

Nach den ersten fünf Tagen und sieben Gastspielen fällt die bisherige Festivalbilanz ausgesprochen gut aus.

Berlin, 16/08/2018

Das Jubiläumsfestival von Tanz im August, sorgsam geplant, begann unter unglücklichen Umständen. Durch den Pilotenstreik einer Fluglinie kam das Ballet de l‘Opéra de Lyon nach einer Odyssee aus Flug und Bahn durch halb Europa erst eine knappe Stunde nach dem eigentlichen Auftritt im Haus der Berliner Festspiele an. Ausufernde Festreden hatten die Zeit überbrückt und die Tänzer sich schon im Zug eintrainiert. So konnten sie doch noch zeigen, was der 30. Ausgabe einen furiosen Auftakt bescherte: einen spannenden Dreiteiler zur jeweils gleichen musikalischen Grundlage, Beethovens „Großer Fuge“. Entstanden war sie 1826 als Finalsatz eines Streichquartetts, wurde dann als eigenständiges Musikwerk veröffentlicht und zählt im Œuvre des Meisters mit ihrem Wechsel zwischen schroffen und sanften Teilen zu seinen anspruchsvollsten Kompositionen. Hans van Manens erotisch aufgeladene choreografische Umsetzung von 1971 ist ein internationaler Erfolg. Nur zwei Jahrzehnte später hat sich Anne Teresa De Keersmaeker an eine eigene Fassung gewagt, Maguy Marins Lesart hatte Premiere 2001. Zusammen mit einer Uraufführung speziell für Lyon ist „Trois Grandes Fugues“ seit 2016 eine einzigartige Klammer für verschiedene tänzerische Handschriften.

Mit „Grande fugue“ zu einer Orchesterfassung der Komposition lieferte Lucinda Childs die Überraschung des Abends. Hatte man der Exponentin der Judson-Church-Bewegung eine minimalistische Version zugetraut, setzt sich ihre klassische Konstruktion von 2016 dezidiert von den Kolleginnen ab. Sechs Paare verstrickt sie vor einem Käfig aus weißen Ornamenten emotionslos in luzide Formverschiebungen, flüssig im Raum und in stetem Kontakt mit der Musik. Kontrastreicher näherte sich da De Keersmaeker 1992 einer Version für Streichquartett, schon mit ihren typischen Aufhüpfern, Körpertorsionen, Gegenbewegungen. Acht unisex in schwarze Anzüge gewandete Tänzer begegnen in dynamischen, bisweilen stürmischen Sequenzen mit den vielen Raumwechseln einander und der Musik, beziehen den Boden ein, gestalten auch Sehnsucht und verschränken ihre komplexen Strukturen mit der Klangvorgabe gewissermaßen zu einer neuen Über-Fuge: frei im Umgang mit der Musik und doch nah ihrem emotionalen Gehalt. „Die Große Fuge“ fliegt nur so über die Szene und läuft weiter ohne Musik, bis Dunkel sie schluckt. Ein Geniestreich.

Maguy Marin, Frankreichs Grande Dame des zeitgenössischen Tanzes, nutzt für „Grosse Fugue“ ebenfalls eine Fassung für Streichquartett, wählt jedoch einen gänzlich anderen Ansatz. Ihre vier Tänzerinnen in signalroten Kleidchen toben entspannt los, präsentieren Schneidbewegungen, ziehen die Schultern hoch und gehen zu Boden, reagieren gedrückt und lassen ihr offenes Haar flattern. Am Ende dieser weiblichen Zustandsbeschreibung strecken die schweißtreibenden Exerzitien sie ermattet nieder.

Den nach fünf Festivaltagen mit sieben Gastspielen wichtigsten Beitrag leisteten der Spanier Marcos Morau und seine Compagnie La Veronal mit „Pasionaria“. Das meint nicht La Pasionaria, die Widerstandskämpferin Dolores Ibárruri aus dem spanischen Bürgerkrieg. Im Gegenteil geht es Morau um eine beklemmende Zukunftsvision: die einer fremdgesteuerten, marionettenartig ruckhaft agierenden Menschheit. Eingesperrt in eine graue Treppen-Balkon-Architektur mit verriegeltem Notausgang ist das grandiose Tänzeroktett, durchlebt angstlos surrealistische Situationen von Enge und Bedrängnis in rätselvoll selbstläufigen Aktionen. An Josef Nadjs surreale Welten erinnert das, bei den Kugelmenschen an Oskar Schlemmers Figurenarsenal aus Zeiten des Bauhauses. Masken tragen die Wesen, formieren sich zur Spinne, drehen sich wie Kasperle, transportieren Pakete ominösen Inhalts. Das Telefon scheint einzige Verbindung zum Draußen. Immer wieder streikt der Strom und herrscht Alarmstimmung. Überwältigend sind die puppenhaften Duette auf dem und über ein Sofa, verstörend nach rund 70 Minuten der Schluss: Beim Sturz in die Todesstarre entgleitet den beiden letzten Protagonisten das Baby, das als einzige Hoffnung auf ein Morgen beständig herumgereicht wurde.

Mit Elizabeth Strebs zirkusreifer Extremshow aus den USA im Sony Center, bei der rotierende und kippende Maschinen Tänzer durch die Luft katapultieren, und „Bombyx Mori“ der Polin Ola Maciejewska im HAU, einer heutigen Annäherung an Loïe Fullers Serpentinentanz von 1890, fällt die bisherige Festivalbilanz ausgesprochen gut aus. Björn Säfstens Trio „Landscape of I“ aus Schweden brachte durch rigorose Gestik und differenzierte Vokalartistik sogar Humor ein.

 

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