Fundgrube weit über den Tanz der Donaumetropole hinaus

„Alles tanzt“ fächert den Kosmos der Wiener Tanzmoderne auf

Ausgangspunkt der Publikation und ihrer gleichnamigen Ausstellung in Wien war die Überführung des bislang andernorts verwahrten Nachlasses von Rosalia Chladek in die Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien.

Wien, 29/04/2019

Wenn man an die Wiener Tanzmoderne Anfang des 20. Jahrhunderts denkt, hat man unweigerlich sie vor Augen: die berühmte Grete Wiesenthal, wie sie allein oder mit zwei ihrer fünf tanzenden Schwestern auf zahllosen Fotomotiven in freier Natur springt und dreht, federt und walzt, hingebungsvoll selbstvergessen strahlend, das Haar blumenumkränzt, den Körper von Stofffluten jugendstilhaft beschwingt umwallt. Ein bisschen neckisch wohl für uns Heutige, für die Entwicklung des modernen Tanzes mehr als bedeutsam. Folgerichtig beginnt und endet der gewichtige Band „Alles tanzt“, der, so der Untertitel, den „Kosmos Wiener Tanzmoderne“ beleuchtet, mit Bildstrecken der Wiesenthals. Die Tanzhistorikerin Andrea Amort als Herausgeberin und die vielen FachautorInnen haben ihn als Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung im Theatermuseum der Donaustadt geschrieben.

Sein Ausgangspunkt war die Überführung des bislang andernorts verwahrten Nachlasses von Rosalia Chladek in die Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Die Erschließung des Materials gebar die Idee einer Ausstellung nebst Publikation. Wie reich die Tanzmoderne in Wien war, welch eminenten Beitrag sie zur Etablierung des modernen Tanzes auf internationaler Ebene geleistet hat, erfährt man umfassend in vier Teilen mit insgesamt 30 wohltuend kurzen Kapiteln, die einen Zeitraum von gut 100 Tanz-Jahren untersuchen und beschreiben.

Alles beginnt mit der Situation um das Fin de Siècle, als auch in Wien Frauen ganz allgemein um ihre Rechte und ihren Körper kämpfen, die weiblichen Barden der amerikanischen Tanzmoderne in der Stadt der Secession gastieren: Loïe Fuller und Zögling Isadora Duncan, die als Solistin eine „Duncanitis“ auslösen wird; ebenfalls Ruth St. Denis und Maud Allan. Das beflügelt die Staatsopern-Tänzerin Grete Wiesenthal, sich von der Klassik zu trennen und nach einer eigenen Ausdrucksweise zu suchen. Die wird sie in der Interpretation von Wiener Walzern finden und damit zur Ur-Exponentin eines lokalen Tanzstils von überregionaler Ausstrahlung werden. Welchen Einfluss etwa Philosophen wie Friedrich Nietzsche, Schriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal, Bildner wie Oskar Kokoschka, Komponisten wie Franz Schreker, Journalisten wie Joseph Gregor, Fotografen wie Rudolf Koppitz nehmen; was insbesondere der Wechsel der Hellerau-Schule von Dresden nach Schloss Laxenburg oder Rudolf von Labans auf Masse gerichteter Festzug der Gewerbe bewirken, auch das thematisieren Texte.

Duncans Auftritte werden Initialzündung für die schwingende Welt der Wiesenthals und inspirieren auch Gertrud Bodenwieser, fünf Jahre jünger als Grete, zu tiefer schürfenden Werken wie etwa dem Zyklus „Dämon Maschine“. Die Medaille für „Les Heures solonnelles“ beim Choreografie-Wettbewerb in Paris 1932, wo Kurt Jooss‘ „Der grüne Tisch“ den 1. Preis gewann, machen sie bekannt. Aus Bodenwiesers Schule gehen als weitere wichtige Vertreterinnen der Wiener Tanzmoderne Gertrud Kraus und Hilde Holger hervor. Ihre Altersgenossin, die Hellerau-Absolventin Rosalia Chladek, wird ein eigenes, bis heute gelehrtes System der Körperbildung entwickeln und zu einer der einflussreichen Persönlichkeiten der Wiener Tanzmoderne aufsteigen.

Diese fruchtbaren Wiener Entwicklungen stoppen jäh mit dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland. Hatte die reiche jüdische Kultur Wiens ohnehin viel zum Tanz beigetragen, so emigrieren nun jüdische Protagonisten ins Ausland: Gertrud Kraus nach Palästina, Gertrud Bodenwieser nach Australien, Hilde Holger über Indien nach England. Im Aufnahmeland wirken sie weiterhin rege für den modernen Tanz und tragen auf ihre Weise, wenngleich erzwungenermaßen, Wiens choreografische und pädagogische Errungenschaften in die Welt. Nicht allen jedoch gelingt die Flucht. So hat auch Wiens Tanz tragische Opfer zu beklagen.

Was von der modernen Bewegung bis ins Heute fortwirkt, welche Bestrebungen es in der Rekonstruktion wichtiger Choreografien gibt, welche Erfolge dabei zu verzeichnen sind, auch etwa in der Revitalisierung des Bodenwieser-Vokabulars, das verhandeln weitere Kapitel ebenso, wie sie eine Linie von Gertrud Kraus zu Ohad Naharin ziehen. Ein Ausblick auf die gegenwärtige Freie Szene, in der Erforschtes von einst aufgehoben scheint, steht am Schluss eines reich bebilderten, von englischen Resümees begleiteten, sehr ansprechend ausgestatteten Buches, das als Standardwerk zum Thema gelten darf. Der Anhang enthält knappe Biografien wesentlicher Persönlichkeiten, Personenregister, Bibliografie und stellt die Textautoren vor.

Andrea Amort (Hrg.): „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“, Hatje Cantz 2019, gebunden, 384 S., 300 Abb., 40,00 Euro, ISBN 978-3-7757-4567-3

 

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