„Le Sacre du Printemps“ von Goyo Montero. Tanz: Ensemble

„Le Sacre du Printemps“ von Goyo Montero. Tanz: Ensemble

Übergänge

Über zeitgenössisches Choreografieren: Douglas Lee und Goyo Montero im Interview

Ein neuer Strawinsky-Abend in Nürnberg. Mit „Petruschka“ und „Le Sacre du Printemps“ stehen zwei Klassiker auf dem Programm, die Montero und Lee in heutiges Licht rücken.

Nürnberg, 19/12/2019

Als Douglas Lee 2011 nach mehr als zehn Jahren als Tänzer und Choreograf das Stuttgarter Ballett verlassen hatte, wollte er vor allem ein Leben, das man gemeinhin als ‚normal‘ bezeichnet, mit Menschen, die nicht unbedingt mit Tanz und Bühnen zu tun haben. Heute taucht er in Berlin in genau diese Welt ab, sobald er wieder eine Uraufführung abgeschlossen hat. Alexandra Karabelas traf den Briten während seiner Arbeit an „Petruschka“ am Staatstheater Nürnberg. Dorthin hatte Ballettchef Goyo Montero den 42-Jährigen bereits zum zweiten Mal gerufen, um ein Werk zu kreieren. Gemeinsam gestalten sie derzeit den Abend „Strawinsky“. Während Lee seiner Faszination für die außerordentlich physikalischen Möglichkeiten des Körpers folgt, ringt Montero seinem „Sacre“ eine eigene neue Interpretation ab. Ihre Herangehensweisen und Erfahrungen mit dem Akt des Choreografierens könnten dabei nicht unterschiedlicher sein.

Douglas, Deine Werkliste umfasst mittlerweile knapp 40 Neukreationen für Kompanien vor allem in Europa und Russland. Entwickelt sich nicht doch langsam die Lust, Ballettdirektor werden zu wollen?

Douglas Lee: Als ich nach Stuttgart kam, war ich noch sehr jung. Zwölf Jahre lang waren dann sechs Tage meiner Woche komplett verplant. Ich empfinde es jetzt als interessanter, eine Art ‚normales Leben‘ zu haben. Als Freelancer weiß ich nicht genau, wie das nächste Jahr aussieht. Ich weiß auch nicht, was ich nächsten Donnerstag mache. Ich denke, das hilft mir kreativ zu bleiben.

Wie sieht Dein Leben als Freelancer konkret aus?

Douglas Lee: Ich mache drei, vier Stücke im Jahr und ich unterrichte. Ich reise um die Welt, ich arbeite mit klassischen und mit zeitgenössischen Kompanien, und das macht mich sehr glücklich. Ich sehe viele Tänzerinnen und Tänzer, die ich nicht kenne. Ich sehe, wie unterschiedlich sie sich bewegen. Ich muss mich anpassen und immer anders kommunizieren. Ich erlebe in sechs Monaten, was ich als Tänzer beim Stuttgarter Ballett unter diesem Aspekt vielleicht in drei Jahren gesehen habe.

Wo hast Du für Dich den Aspekt des ‚normalen‘ Lebens etabliert, außer in der Tatsache, dass nicht mehr jeder Tag durchgeplant ist?

Douglas Lee: Ich habe dieses Leben in Berlin, das total getrennt ist von der Tanzwelt. Ich würde nicht sagen, das ist das Beste, aber für mich ist es gesünder. Ich bekomme zwischen meinen Stücken und Aufträgen die totale Distanz dadurch. Mein Umfeld hört nach einer Premiere vielleicht fünf Minuten zu, wie sie war, und dann ist das Thema auch durch. Das ist gut. Es zwingt einen auszusteigen. Denn wenn man in einen Kreationsprozess einsteigt, dann hält man sich für zwei bis drei Wochen innerlich total dort auf. Dann ist das die Welt bis zur Premiere. Die Welt draußen mit all ihren Dingen ist eine völlig andere Perspektive.

Wie gestaltest Du den Übergang?

Douglas Lee: Ist ein Stück fertig, verschwinde ich in der Nacht. Ich lese ein Buch, ich spreche mit meinem besten Freund, höchstwahrscheinlich nicht über Tanz. Bis es wieder von vorne losgeht. Ich bin auf diese Weise offen für Dinge, die ich nicht erwartet hätte.

Zum Beispiel?

Douglas Lee: Wenn man mir vor drei Jahren gesagt hätte, dass ich am Staatstheater Nürnberg „Petruschka“ von Igor Strawinsky choreografieren würde, wäre ich wahrscheinlich skeptisch gewesen, ob das Thema wirklich zu mir passen würde. Aber jetzt sitze ich genau hier am richtigen Platz und freue mich, dass Goyo mich im vergangenen Jahr angerufen hat. Ich war zu diesem Zeitpunkt gerade in St. Petersburg, wo ich zum ersten Mal mit „Der Feuervogel“ auf Musik von Igor Strawinsky gearbeitet hatte. Er meinte, „Petruschka“ könnte mich interessieren.

Ich finde, der Stoff von „Petruschka“ passt perfekt zu Dir. Bereits „Cindys Gift“ aus dem Jahr 2002 für das Stuttgarter Ballett arbeitete mit dem Motiv der Puppe ....

Douglas Lee: ... und auch mein erstes Stück für Nürnberg, „Doll Songs“, 2014 hat das. Bei Petruschka gibt es ebenfalls dieses Fragezeichen. Hat die Puppe nun einen Geist oder nicht? Hat die Puppe einen Geist, weil sie eine Seele hat? Wird sie dadurch menschlich? Es gibt bei Petruschka keine Grenze zwischen Mensch und Puppe.

Wenn Du choreografierst, modellierst und baust Du einen anderen Körper. Könntest Du das beschreiben?

Douglas Lee: Ich habe entdeckt, dass wenn ich zu TänzerInnen über Bewegung in einer Weise spreche, die nicht durch Gefühle evoziert oder kontrolliert ist, bewegen sie sich anders. Ich selbst war damals, als ich Tänzer war, daran interessiert, während des Tanzens auf der Bühne ein anderer zu werden, ein externer Körper. Deswegen gibt es auch, wenn man tanzt, das Gefühl, etwas zu entfliehen. Es hat etwas sehr Freies für mich als Choreograf zu sehen, dass ein Mensch, wenn er tanzt, nicht mehr derselbe ist, sondern ein anderer – eine Form, eine Skulptur. Ich arbeite von daher so, um diese Resultate zu erhalten.

Hast Du eine innere Vorstellung von einem dritten Körper, den Du während des Kreierens abgleichst mit dem Bewegungsmaterial, das Du aus den Tänzerinnen und Tänzern herausholst?

Douglas Lee: Wenn ich choreografiere, ist es manchmal kompliziert für mich, weil ich noch das Bewusstsein als Tänzer habe, auch wenn ich jetzt älter bin. Ich bin noch in Kontakt mit meinem physischen Dasein. Im Gegensatz zu einigen Jahren sitze ich heute im Studio tatsächlich aber öfter als früher. Ich spreche darüber, was ich möchte und zeige es weniger. Das hat andere Ergebnisse zur Folge, variantenreichere würde ich sagen, weil sie weggehen von dem was ich physisch mitbringe.

Deine Bewegungsskulpturen bilden eine Art magische Parallelwelt.

Douglas Lee: Ich gehe sehr gerne ins Theater. Es ist ein anderer Ort. Eine andere Landschaft. Ein Universum mit lauter seltsamen Figuren. Ein magischer Ort, an dem Ungewöhnliches passiert, etwas Aufregendes oder Trauriges. Es ist für mich wichtig, etwas zu kreieren, was diesem besonderen Ambiente entspricht und die Menschen für dreißig Minuten woanders hinkatapultiert. Ich finde, dass das etwas sehr Schönes hat: Die Tür wird hier tatsächlich geschlossen, keiner darf mehr hinein und in den folgenden dreißig Minuten passiert nichts außer dem, was gleich zu sehen ist. Es ist in dieser Zeit nichts am Handy zu checken, zu prüfen oder anzusehen. Die Menschen verlernen das langsam. Sie brauche heute immer schneller irgendetwas.

Wie gehst Du vor dem Hintergrund komplexer Bewegungsgebilde mit der Aufforderung zu erzählen um? „Petruschka“ erzählt ja eine Geschichte.

Douglas Lee: Petruschka liebt jemanden, der ihn nicht liebt. Das ist eine typische Geschichte. Er ist für mich eine Figur wie jedermann. Jeder sieht etwas von sich selbst in ihm. Hört man die Musik, versteht man ihre Klarheit, mit der die Figuren ihre Geschichte erzählen. Da noch etwas entgegen- oder draufzusetzen, empfand ich als uferlos. Ich kam für mich darauf, dass es das Ballett „Petruschka“ einfach schon gibt und das Einzige, was bislang von diesem Stoff und der Geschichte getrennt existiert, sind meine Ästhetik und mein Bewegungsverständnis.

Was gibt Dir Tanz außer der Tatsache, kreativ zu sein?

Douglas Lee: Wer wäre ich, wenn ich nicht Tänzer geworden wäre? Ich frage mich das auch manchmal. Tänzer zu sein bringt dich in Berührung mit deinen physischen, deinen körperlichen Möglichkeiten. Wenn ich nicht Tänzer geworden wäre, wäre ich wahrscheinlich mehr in die akademische Richtung gegangen.

Goyo, du erarbeitest für den Abend mit Douglas „Le Sacre du Printemps“. Worin bestand für dich die größte Herausforderung, dich in deinem zwölften Jahr als äußerst erfolgreicher Chefchoreograf in Nürnberg für eine Neuinterpretation von „Sacre“ zu entscheiden?

Goyo Montero: Der größte Druck bestand für mich darin, ‚nach‘ Pina Bausch „Sacre“ zu choreografieren. Ich sah ihr Werk als ich Tänzer an der Deutschen Oper in Berlin war. Das Tanztheater Wuppertal gastierte im Schillertheater. Die Aufführung von „Sacre“ war für mich eine der stärksten emotionalen Erfahrungen, die ich bis dahin in meinem Leben gemacht hatte. Ihre Interpretation hat so viel Kraft und Ehrlichkeit. Ihr Ansatz, ihr Thema, ihre Choreografie, ihre Musikalität, die Art wie sie die Geschichte erzählt, in so einer direkten, rohen Art – es gab für mich keine andere Art „Sacre“ zu choreografieren, die klarer gewesen wäre. Deshalb hatte ich lange Zweifel, ob ich es wagen sollte. Andererseits spürte ich, dass es in zwei, drei Jahren vielleicht wieder für mich zu spät gewesen wäre. Vielleicht schwindet wieder mein Mut.

Wie wirkt Strawinskys Musik auf Dich?

Goyo Montero: Es ist sehr schwierig, sie in der Choreografie über Bewegung zu repräsentieren, finde ich. Sie fühlt sich für mich wie eine Naturkatastrophe an, wie ein Erdbeben, ein Tsunami, ein großer Knall, bei dem die Erde verschwindet. Ich empfinde es als schwierig, die Musik mit dem menschlichen Körper umzusetzen, mit einer kleinen Gruppe von TänzerInnen. Diese Musik verlangt für mich nach einer Bühne, die voll ist mit über hundert TänzerInnen.

Wie gehst du mit der erzählten Opferhandlung um? Man kennt dich als einen Choreografen, der immer versucht die Dinge ganz zu erforschen und zu Ende zu denken. Bei dir kommt, so mein Eindruck über die Jahre, zuerst der Gedanke, dann die Bewegung. Die spirituelle Dimension ist dir nicht unbekannt.

Goyo Montero: Ich beschäftigte mich mit der Idee vom Scheitern, vom Versagen und tatsächlich im Kontakt mit Gott. Die Menschheit brachte in allen Kulturen Gesellschaften hervor, die in starkem Kontakt mit dem Göttlichen waren. Die Frage, was nach dem Tod passiert, haben alle bearbeitet. Ich beschäftigte mich infolgedessen mit zahlreichen Opfergeschichten und stellte mir diese untergegangenen Gesellschaften vor, die alle ihre eigenen Geschichten vom Leben, dem Übergang und dem Tod entwickelt hatten. Und so fand ich zu meiner Hauptfrage, meiner tragenden Erzählung.

Nämlich?

Goyo Montero: Was ist, wenn sich nach einem dargebrachten Opfer keine Erlösung einstellt? Keine Verwandlung? Wenn das Opfer sozusagen versagt. Wie reagiert dann die Gesellschaft? Umarmt sie ihn oder stößt sie ihn aus? Normalerweise stößt sie ihn aus. Die einzige Person, die sich dann vielleicht für so jemanden interessiert, könnte eine Figur sein, die versteht, dass ein Opfer nicht darin besteht, sich aufzugeben, sondern durch eine Tür hindurchzugehen, um sich zu verändern. Das ist die Grundstruktur.

Wie ist Dein Menschenbild anlässlich Deiner „Sacre“-Interpretation?

Goyo Montero: ​​​​​​​Es gibt in allen Religionen das Moment, dass man sich durch Schmerz wandelt. Der Mensch hat sich am menschlichsten gezeigt, wenn er für die anderen durch das Feuer geht, durch das Leiden. Der Feuerwehrmann. Die Frau, die ein Kind gebärt. Viele andere. Das ist für mich das ultimative Opfer. Wenn Du Dich für andere opferst.

Die gesellschaftlichen Strukturen sind bei uns anders angelegt.

Goyo Montero: ​​​​​​​Ja, Politik raubt Empathie. Ich reflektiere eine Gesellschaft, die sich nur um das eigene Ego dreht, um die eigenen Gedanken, die eigenen Dinge, die eigenen Bequemlichkeiten. Wir sind nicht in vollem Bewusstsein darüber, was um uns herum passiert. Heute haben wir so viele Informationen in unserer Gesellschaft über unsere Geschichte, dass wir fähig sein müssten, diese umzusetzen. Aber dennoch wird beispielsweise die Frau immer noch nicht so betrachtet wie der Mann. Was ist nun Stärke? Stärke durch Verbindung, durch Empathie, durch Mut oder physische Stärke? Wir sollten uns mehr dem Leiden um uns öffnen, denn wenn wir es nicht tun, kommt es zu uns zurück. Mein „Sacre“ ist eine Reflexion, um über Gesellschaft und ihre Fähigkeit zur Empathie nachzudenken. Denn für mich wird immer deutlicher: Wir können uns erst dann transzendieren, wenn wir miteinander in Kontakt kommen. Das möchte ich aus „Sacre“ herausdestillieren.

Ist Dir wichtig, dass Dich dein Publikum versteht?

Goyo Montero: Meine Stücke haben eine starke Struktur. Je weiter du gehst in deinem Bewusstsein, desto mehr kannst du sehen in meinen Stücken. Unsere Verantwortung als Choreografen ist es, Themen zu transportieren, die für unsere Gesellschaft oder für uns selbst in diesem Moment wichtig sind. „Sacre“ kann man nicht machen, wenn man nicht ehrlich ist.

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