Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Ein Ballett zum 150-jährigen Jubiläum einer Landesverfassung – das allein schon ist außergewöhnlich. Bemerkenswert zudem, dass sich der gebürtige Prager Jiří Kylián – künstlerischer Leiter des Nederlands Dans Theater von 1978 bis 1999 – ausgerechnet von der spröden Aufgabenstellung im Auftrag der niederländischen Regierung zu einem seiner wenigen abendfüllenden Werke inspirieren ließ. Thematisch beschäftigte ihn dabei vor allem der erste Paragraf des demokratischen Manifests: „Alle, die sich in den Niederlanden aufhalten, werden in gleichen Fällen gleich behandelt. Niemand darf wegen seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Anschauungen, seiner Rasse, seines Geschlechtes oder aus anderen Gründen diskriminiert werden.“
Weil sich in Kyliáns Augen eine Tanzkompanie aus unterschiedlichsten Nationalitäten zusammensetzt, die als Mikrokosmos gemeinsam etwas erschaffen, indem sie wie ein Staat im Kleinen funktionieren, entstand 1998 „One of a Kind“ – was übersetzt „einzigartig“ bedeutet. Nun wurde der Dreiteiler ins Repertoire des Stuttgarter Balletts übernommen – genau 50 Jahre nachdem John Cranko den damals 21-jährigen Kylián ins Ensemble engagiert hatte. Es war der Ausgangspunkt für dessen unvergleichliche Karriere als Choreograf mit eigener Handschrift, tiefem Gespür für die Musik und einem Faible, durch Körper und Tanz abstrakte Geschichten zu erzählen.
Die Premiere am 22. Februar eignete sich glänzend, um in einem futuristisch-zeitlosen Ambiente des renommierten japanischen Architekten Atsushi Kitagawara die Stärken der seit Saisonbeginn von Tamas Detrich geleiteten Kompanie ins beste Licht zu rücken. Insgesamt 21 Tänzerinnen und Tänzer hatten Gelegenheit, sich in einem permanenten Dialog als Persönlichkeiten mit jeweils eigenen Bewegungsqualitäten zu behaupten bzw. innerhalb eines sich ständig verändernden Gruppengefüges Verbindungen einzugehen oder auszuschlagen. Hauptsächlich darum geht es in „One of a Kind“.
Inhaltlich untersucht die Choreografie das (Spannungs-)Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Zwei visuell hochästhetische Stunden lang kann man in einer Abfolge aus konzentrierten Solos, Duetten, Pas de trois und Pas de quatre – so nennt Kylián die einzelnen Abschnitte – diverse Modelle und emotionale Stimmungslagen zwischenmenschlicher Beziehungen verfolgen. Mal zu sanft-harmonischer, mal zu aufwühlender Auftragsmusik des Australiers Brett Dean (unter Einbindung eines Madrigals von Gesualdo da Venosa und Stücken von David Hykes, Chiel Meijering, David Lumsdaine, John Cage und Benjamin Britten).
„One of a Kind“ handelt aber auch vom Verlauf eines Tänzerlebens. Einfühlsam bis hin zu erschöpften, einsamen Momenten am Portalrahmen. Oder enthusiasmiert in Partnerbegegnungen erzählt. Symbolfigur ist eine Solistin, die als einzige Interpretin die gesamte Vorstellungsdauer einschließlich zweier (Umbau)Pausen bei offenem Vorhang präsent ist. Sie beginnt im Zuschauerraum zu tanzen. Mit langsam suchenden Bewegungen tastet sie sich wie eine Fremde über einen Steg auf die Bühne vor. Erst ganz zum Schluss verlässt sie diese wieder. Geht nach einem expressiven Solo, dem Publikum ihren Rücken zugewandt, durch einen Vorhang aus Metallschnüren nach hinten ab.
Den Raum des ersten Teils hat Atsushi Kitagawara in eine kalte Landschaft verwandelt, in deren zerklüftetem Hintergrund sich weiße Schollen auftürmen. Der Weg dorthin führt über den Orchestergraben, von dem aus Solocellist Francis Gouton als einziger Live-Musiker die Protagonistin behutsam begleitet. Im zweiten Teil – hier hängen ein knitteriges weißes Quadrat und eine bedrohlich Richtung Boden zirkelnde Bleistiftspitze von der Decke – interagieren die Tänzer in markanten solistischen Passagen mit dem jetzt seitlich auf der Bühne sitzenden Musiker. Herrlich dynamische Momente in diffusem Licht, die bleibenden Eindruck hinterlassen (Überarbeitung des Lichtdesigns mit räumlichen Effekten: Kees Tjebbes nach Michael Simon).
Am 3. März konnte man „One of a Kind“ gleich zweimal erleben. Am Nachmittag in einer noch jungen Besetzung, darunter so manche aus dem Corps de ballet. Angeführt von der südkoreanischen Ersten Solistin Hyo-Jung Kang. Ihre Farben: zart, aufmerksam, in sich gekehrt und dennoch angestachelt von Neugier auf neue Erfahrungswelten. Langsamkeit und wilde Energie, das Flatterhafte und Eckige, weiche Verbiegungen und hartes Abklatschen wurden in dieser Vorstellung sehr schön ausgekostet. Man fühlte sich an Origami-Skulpturen erinnert, die sich durch unsichtbare Kräfte immer weiter entfalten.
Am Abend übernahm Miriam Kacerova die Rolle der Protagonistin. Und trat dabei wesentlich schärfer bei jeder ihrer Akzentsetzungen auf. Gut hätte man sich an ihrer Stelle auch Friedemann Vogel vorstellen können, der im Uraufführungsjahr von „One of a Kind“ Mitglied im Corps de ballet des Stuttgarter Balletts geworden war. 21 Jahre später überwältigt der 39-Jährige als kraftvolle Erscheinung, die unmissverständlich selbstbewusst im dritten Akt aus der Dunkelheit auftaucht. Bestechend durch seine Eleganz, den rasanten Drive und die ihm eigene, makellose Technik.
Als ebenbürtige Partnerin gesellt sich ihm Halbsolistin Agnes Su hinzu. Ihr sich gefährlich verschraubendes Duett mit nur so durch die Luft geschleuderten Beinen steigert sich stetig. Unterbrochen von solistischen Sequenzen, in denen ihre Persönlichkeiten aufflackern. Grandiose Statements aus purem Tanz, nur noch zu toppen durch die Staffelung mit anderen Paaren.
Famos darf auch Jason Reilly, zumeist an der Seite von Miriam Kacerova, durch die Szenerie aller drei Teile jagen. Im Pas de trois mit Solist Martí Fernández Paixà ringen die drei dem Ballett enorme Power und schrittgewaltige Brisanz ab. Impulsiv mit berauschender Leichtigkeit über alle technischen Herausforderungen hinweg tanzen auch Elisa Badenes mit Adhonay Soares da Silva und am Ende – zuletzt in einem finalen Quartett des Einklangs neben Friedemann Vogel und Agnes Su – Anna Osadcenko und Roman Novitzky.
Gekleidet in hautenge Trikots der Kostümbildnerin Joke Visser vermag die erfahrene Premierenbesetzung Erster Solisten und Halbsolisten aus jedem Auftritt das Maximum an individueller Prägnanz und Leuchtkraft herauszuholen. Schritte, Sprünge und Pirouetten, noch eine Stufe genauer, härter, ja zackiger ausgeführt als am Nachmittag, werden zur Nebensache. Plötzlich rücken die Empfindungen des Augenblicks in den Fokus. Man vergisst die Machart des Stücks. Ergriffen von seiner Sogwirkung aus Tanz, Musik, Bühnenbild und Licht.
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