„Was der Körper erinnert“
Die Akademie der Künste feiert das Tanzerbe in Berlin – Teil 1
Die Akademie der Künste in Berlin feiert das Tanzerbe – Teil 2
Mit der Veranstaltungsreihe „Was der Körper erinnert. Zur Aktualität des Tanzerbes“ präsentiert die Akademie der Künste ein vielseitiges Programm rund um das Tanzerbe und seinem Einfluss auf die Gegenwartskunst. Mit zahlreichen Aufführungen, Filmpräsentationen, Symposien und einer Sammlungsschau, wird auch „Retrospective“ by Xavier Le Roy gezeigt.
In „Retrospective“ bespielen PerformerInnen anstelle von Objekten und Installationen die leere historische Halle des Hamburger Bahnhofs – Museum für Gegenwartskunst. Eine Performerin sitzt vor einer Wand auf dem Boden, still und erstarrt wie eine Skulptur. Auf der gegenüberliegenden Seite von ihr führt ein anderer Performer eine Bewegungssequenz im Loop aus, die immer wieder mit dem Ausspruch „And maybe it was this“ von Neuem beginnt. Es ist ein Ausschnitt aus Le Roys Stück „Product of Circumstances“ von 1999. Eine dritte Performerin, die aus Beirut stammende Zeina Hanna, ist von einigen Besuchern umringt. Sie hatte gerade einen Ausschnitt aus „Giszelle“ von 2001 vorgeführt und erzählt, wie sie in dem Jahr High-School beendete und Tänzerin werden wollte, wofür es allerdings keine Infrastruktur im Libanon gab. Plötzlich, als ahnungslose Neuankömmlinge den Ausstellungsraum betreten, ertönt ein lautes Geräusch – „Wwww!“ – Die Performer bewegen sich auf einmal roboterartig. Zeina sagt zu ihren Zuhörern entschuldigend: „Ich muss meine Retrospektive hier leider schon abbrechen, denn wir möchten die neuen Besucher willkommen heißen. Wenn du eine Geschichte bis zum Ende hören willst, dann kannst du zu meinem Kollegen auf der gegenüberliegenden Seite gehen.“ – „Wwww!“ – weg war sie und rannte hinter eine der vier Wände, um dann wie die zwei anderen auf allen Vieren wieder hervorzukriechen und die überraschten Neuankömmlinge zu umgeben. Nur ihr Kollege, der vierte Performer, ließ sich vom Geschehen im Raum nicht beirren und erzählte seinen Zuhörern und Zuschauern seine individuelle Geschichte von Anfang bis Ende.
In „Retrospective“ lässt Xavier Le Roy, ein Pionier des Konzepttanzes, seine Performer auserwählte Ausschnitte aus seinen Bühnensolostücken wieder aufführen und neu interpretieren. Dabei interagieren sie mit jedem einzelnen Besucher der Ausstellung und kreieren auf diese Art kontinuierlich neue Situationen. In Erzählungen setzen die Performer ihre persönliche Tänzerbiografie mit Xavier Le Roys Tanzstücken der Vergangenheit in Beziehung. So beginnt der Tänzer Ming Poon seine Retrospektive mit einem Ausschnitt aus “Narcisse Flip” und seiner Knie-OP im Jahr 1997. Weiter erzählt er, wie das Leben ihn zur Feldenkreispraxis führte und er dadurch sein Verständnis von Tanz begann zu hinterfragen. Nach Beendigung seiner Geschichte, verweist er auf den Hinterraum der Ausstellung und erstarrt in seiner Bewegung.
Dort, im zweiten Raum, der mit drei Computerarbeitsplätzen bestückt ist, heißen einen zwei weitere PerformerInnen willkommen. Hier ist es möglich durch ein digitales Verzeichnis aus Videos, Fotos, Probenmaterial, Texten und Interviews zu Xavier Le Roys Schaffen zu klicken. Das Tanzerbe Xavier Le Roys steht dem Besucher damit digitalisiert zur Verfügung. Zugleich dient dieser Bereich den Performern als eine Art offener Vorbereitungs- und Probenraum, in der Besucher herzlich willkommen sind und jegliche Fragen stellen können. Hier gibt es Raum zum freien Gespräch, womit eine ganz andere Ebene der Besucher- und Performerbeziehung erlebt werden kann.
Xavier Le Roys Ausstellung ist keine Retrospektive im klassischen Sinne als eine Rückschau auf ein meist chronologisch geordnetes Schaffenswerk; sondern eine Retrospektive im Produktionsmodus, die aus altem Bewegungsmaterial kontinuierlich Neues entstehen lässt. Sie ergibt sich als Choreografie aus Live-Aktionen und inszenierten Situationen, die sich durch die Begegnung der Performer und Besucher sowie ihrer Interaktion im Ausstellungsraum im Laufe der Zeit entfaltet.
Statt Objekte der bildenden Kunst wird hier darstellende Kunst im Format einer Ausstellung präsentiert. Die Besucher sind in „Retrospective“, wie in jeder gewöhnlichen Ausstellung auch, die Adressaten der Präsentation; doch anstelle von Ausstellungsstücken sind es Ausstellungsbewegungen und –aktionen, die hier von Performern ausgeführt werden. Die Rolle der BesucherInnen ist zentral. Ohne sie findet keine Ausstellung statt und die TänzerInnen hören auf zu performen. Und es sind nur die BesucherInnen, die durch ihr Betreten der Ausstellung ein Rotationssystem der Performer auslösen, die dadurch ihre Positionen im Raum und die damit verbundenen Handlungsaktionen wechseln und verändern. Die ZuschauerInnen genießen in „Retrospective“ eine Freiheit, die ihnen in Bühnenaufführungen nicht gewehrt ist. Es den BesucherInnen frei überlassen, wie lange sie in der Ausstellung verweilen, welche Tanzausschnitte sie sich anschauen und welchen Geschichten der Performern sie zuhören und zuschauen.
„Retrospective“ konzipierte Le Roy auf Einladung Laurence Rassels für die Fundació Antoni Tàpies in Barcelona. Seitdem tourt diese Live-Tanz-Ausstellung weltweit durch renommierte Museen wie das MoMA PS1 in New York, die Tate Modern in London, das Centre Pompidou und war u.a. auch zu Gast in Rio de Janeiro, Beirut und Mexiko. Im Hamburger Bahnhof ist sie noch diese Woche bis zum 08.09.2019 während der regulären Museumsöffnungszeiten zu erleben.
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