„Die Backchen - Lasst uns tanzen“ von Wim Vandekeybus

„Die Backchen - Lasst uns tanzen“ von Wim Vandekeybus

Rausch der Sinne

Wim Vandekeybus „Die Bakchen - Lasst uns tanzen“ von Peter Verhelst nach Euripides im Münchner Cuvilliéstheater

In der Koproduktion mit dem Residenztheater inszeniert Wim Vandekeybus einen bildgewaltigen Rausch der Sinne, der das Aufeinanderprallen zweier Lebensprinzipien spürbar macht.

München, 04/04/2019

Zum rot-goldenen Rokoko des Cuvilliétheaters stehen die weißen Flächen einer Rampe, zweier Wände und eines Turms in scharfem Kontrast. Von dem gut zehn Meter hohen Turm wird kopfüber ein Mann herabgelassen, der schwarze Linien auf die Fläche zieht: der Street-Art-Maler und Performer Vincent Glowinski, der während seiner Erschaffung des Bühnenbilds auch zeitweilig Erscheinungen des Dionysos verkörpert. Als eigentlicher Dionysos tritt jedoch Niklas Wetzel, Schauspielschul-Absolvent Typ Leonardo DiCaprio, auf. Dionysos liebt waldige Höhen, spricht von seiner Geburt durch Semele, die ihren Liebhaber Zeus auf Heras Rat in seiner wahren Gestalt sehen wollte und in dessen Blitzen zu Asche verglühte, und erzählt seine zweite Geburt aus dem Schenkel des Zeus.

Auf Thebens Burg kündigen Wolfram Rupperti und René Dumont als Kadmos und Teiresias an, in den Bergen zu tanzen, und Agaue, die Tochter des Kadmos, führt bereits Mänaden an. Ihrem Sohn Pentheus, dem von Till Firit gespielten jungen König von Theben, rät Kadmos, den neu angekommenen Gott zu ehren. Doch was dessen Gefolge tut, hält Pentheus nicht für Religion, sondern für Obszönitäten, verhängt also ein Ausflugsverbot. Agaue aber will tanzen. Traumhaft schön illustrieren die Schwünge von Aymará Parola und Zoe Gyssler in kreisenden Hebungen die frühlingshafte Sehnsucht der Sinne. Live-Malereien lassen Thebens belebte Waldhöhen ahnen, und die Musik von Dijf Sanders zieht das Publikum in das mythische Geschehen. Er spielt sie live durch Schlagen oder Streichen selbst gespannter Saiten, modifiziert deren Töne digital und schafft ein umfangreiches Spektrum von leisen sphärischen Klängen bis hin zu bombastischen Klanggewittern. Dionysos stellt sich als Gott all dessen vor, was nicht kontrollierbar ist, und das Bühnenspiel steigert sich zu einer Orgie. Der ganze Text des Euripides, von Peter Verhelst in wenige Worte gedrängt, wird hier physisch sichtbar.

Ermattetes Keuchen folgt auf die Ekstase, Schnauben deutet auf Triebhaftigkeit, exzessiv dargestellt von Horacio Macuacua. Welch ein Gegensatz dazu die Vernunft-Parolen, ein Anführer dürfe keine Prinzipien haben, sondern müsse geschmeidig und beliebt sein. „Gib dem Volk, was es will, und nimm ihm, was zur Erhaltung der Herrschaft wichtig ist.“ Mit den Symbolen, die Vincent Glowinski gemalt hat, wird übertüncht, was vermisst werden könnte. Dennoch laufen alle Dionysos nach, und Pentheus wird hart bedrängt: Wessen Gesetze sollen hier gelten? Eine Doppelflöte beschwört ruhigere Bilder: Agaue lässt sich betören, entzieht sich, im Duett tanzen zwei Männer wie Faune. Man muss nicht alle Szenen entschlüsseln, sie faszinieren auch so. Was ist ein Gott? Die Kraft, alles zu tun, was ein Zeus tut, großzügig und freigebig. Und Dionysos offenbart: „Ich, der Beweis seiner Liebe, wurde gerettet, um zurückzukehren, um zu zeigen die Liebe des Zeus zu meiner Mutter, deren Andenken Theben verweigert. Sie bringe ich nach Hause zurück, und mit ihr meine Raserei.“ Pentheus sieht eine Vision: Die Frauen zerreißen ein Tier, ihr Tanz wird ekstatisch. Von welchen Kräften dieser Mythos handelt, kann man hier fühlen.

Pentheus aber ruft die Wachen, und Dionysos beginnt seine Rache, indem er ihn verführt: „Willst du nicht sehen, was die da aushecken, nackt übereinander?“ Als einseitiger Verfechter des rationalen Nutzens neu an der Macht antwortet Pentheus: „Ich bin es meinem Land schuldig, das mit eigenen Augen zu kontrollieren.“ Agaue rückt in den Fokus, reflektiert, wie die Pflicht einer Frau im Gegensatz zu ihren Sehnsüchten steht. „Was ist das Leben? Welche Überflüsse bietet es!“ Solche Gedanken scheinen ins Reich des Wahnsinns gebannt. Die Choreografie aber zeigt die Mänaden, wie sie im von der dionysischen Natur dem Sinneshunger bereit gestellten Überfluss tanzen. Und Kadmos lobt seine Tochter: „Dreh dich, dreh dich!“

Man kann zu dieser Vorstellung nur sagen: Wahnsinn! Das kolossale Bühnenbild hat sich gedreht. Agaue betastet das Gesicht des Kopfes unter ihrem Arm. Die Szene, in der sie begreift, dass sie im Rausch den Sohn getötet hat, ist ungekünstelt und großartig gespielt von Sylvana Krappatsch. Pentheus scheint posthum Recht zu bekommen. Wäre da nicht die Schlussrede des Dionysos: „Die Bürger meiner Stadt haben die Erinnerung an meine Mutter verweigert und mich beleidigt.“ Euripides, im 5. Jh. v. Chr. innovativ als Dichter, hätte sich über die Wucht dieses Gesamtkunstwerks gefreut, weil Wim Vandekeybus mit seinem Team nicht nur das Aufeinanderprallen zweier Prinzipien, der immer Thema der attischen Tragödie war, sicht- und erlebbar macht, sondern auch heutige künstlerische und bühnentechnische Möglichkeiten faszinierend entwickelt.

Nächste Termine: am 23. und 25. Mai um 20 Uhr und am 26. Mai um 19 Uhr
 

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