Fliegende Körper
„Scattered Memories“ von Wim Vandekeybus bei ImPulsTanz Wien
Seit unglaublichen 35 Jahren ist Tanzikone Wim Vandekeybus mit seinem nur zwei Jahre zuvor gegründeten Ensemble Ultima Vez bereits beim ImPulsTanz Festival in Wien zu Gast – 1989 mit „Les Porteuses De Mauvaises Nouvelles“. Dieses Jahr beehrt der Choreograf, Fotograf und Filmemacher das renommierte Tanzfestival für zeitgenössischen Tanz mit der österreichischen Erstaufführung des Multimedia-Ereignisses „Infamous Offspring“ – eine überwältigende Symbiose aus Tanz, Sprechtheater, Lyrik und Film, basierend auf dem Theaterdebüt der britischen Dichterin Fiona Benson. Mit der für Vandekeybus typisch rohen Körperlichkeit und virtuos-brachialen Athletik gestaltet der Belgier ein verstörendes Körpertheater, das sein Publikum lange nach Vorstellungsende nicht loslässt.
Futuristische Seins-Welten und Apokalypse
In einem losen Mosaik aus Handlungssträngen und -bausteinen erzählt die superbe Truppe an Tänzer*innen und Schauspieler*innen bekannte Mythen der antiken Götterwelt rund um Ehebruch, Inzest, Mord und Habgier mit Bild, Ton, Wort und Bewegung nach. Einerseits entführt sie hiermit in den Olymp des sexsüchtigen Zeus und seiner Königin Hera, die ihren notorisch untreuen und gewalttägigen Ehemann mehr und mehr verachtet, andererseits eröffnet sie futuristische Seins-Welten jenseits von Zeit und Raum, die garantiert in der Apokalpyse enden. Für sein Darsteller*innen-Ensemble, das nur per eingespielten Filmsequenzen gegenwärtig ist – dafür aber omnipräsent und zugleich unerreichbar – hat sich Vandekeybus eine herausragende Truppe zusammengestellt: Trumpfen die britischen Schauspieler*innen Daniel Copeland und Lucy Black mit pointierter Wortgewalt als zerstörerische Göttergatten auf, so sorgt der Flamenco-Startänzer Israel Galván, der nur durch rhythmisierte Körpersprache (Stöckelschuhe als Schlagwerk und geschliffene Säbel als Klang-Instrumente) in der Rolle des blinden Propheten Tiresias in Filmeinblendungen präsent ist, für einen erheblichen Gruselfaktor des Abends.
An vielen Stellen steigert sich „Infamous Offspring“ – als eine im Titel angelegte elterliche Anklage an die mehr und mehr aus dem Ruder geratene göttliche Sipp- und Nachkommenschaft – zu einer nahezu unerträglichen Live-Performance aus Aggression und Brutalität. Tänzerinnen werden an den Haaren über die Bühne geschleift, Tänzer gegen die (Kletter-)Wand geworfen oder sehr realitätsgetreu auf offener Bühne geschändet, misshandelt und vergewaltigt. Die Götter und Göttinnen sollen, laut Programmheft, als Projektionen extremer Erfahrungen menschlichen Lebens gelten – als überlebensgroße Spiegel zeitloser Schwächen und Stärken des Homo sapiens.
Ein ‚schöner Theaterabend‘ ist dies sicherlich nicht, dem einen die berühmten belgischen Gäste hier bescheren, aber ein an Virtuosität und Eindringlichkeit spektakuläres und hier auch unvergessliches Theaterereignis, vom dem man sich erst einmal wieder erholen muss. Über die (Höchst-)Leistung der Tänzer*innen und Darsteller*innen wie auch das ausgeklügelte und perfekt aufeinander abgestimmte Gesamtkonzept kann man nur staunen. Sehens- und erlebniswert ist diese hautnahe Götterwelt-Performance in all ihren Abgründen und Abwegen in jedem Fall – nur nicht für zartere Gemüter, die sind bei dieser Vorstellungsreihe, die massiv unter die Haut und auf die Psyche geht, schlecht aufgehoben.
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